Wir lebten, so heißt es, in einer »Informationsgesellschaft« (ein schönes Etikett, das man verstehen kann, wie es beliebt). Zumindest »digital natives« hätten noch nie dagewesenen Zugriff auf Informationen, »also« Wissen. Wann, wo, wie und wie viel davon wofür auch immer jeweils benötigt. Nun ja. Zweifellos beeindruckend, dieses digitale Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Was daraus gemacht werden kann, liegt beim Bediener der Elektronik. Einerseits als deren Anhängsel beim vorgabegemäßen Einsatz an einem vom Produktionsmittelbesitzer für noch größeren Mehrwert modernisierten Arbeitsplatz (vgl. dazu z. B. Peter Schadts Veröffentlichungen). Zum anderen bei der Verfolgung sogenannter »privater« Anliegen, genauer: Aufgaben. Sie machen keinen rein eigenständigen Bereich aus, sondern sind wesentlich dadurch bestimmt, das fürs Geldverdienen gleich leben zu können nötige Arbeitsvermögen wiederherzustellen (vgl. dazu auch z. B. Kris Adlitz‘ Buch zu Geschlechterungleichheit).
Aktuell stellt sich aus Sicht des Staats der von ihm definierte und erwartete gesellschaftliche Nutzen, den die neuen Mittel kontinuierlich und effizient abwerfen sollen, dann ein, wenn sein Nachwuchs an Arbeitskräften auf dem neuesten digitalen Stand ist. Dafür schickt er sich an, das schon zu analogen Zeiten im und für den Kapitalismus Nötige (vgl. dazu Freerk Huiskens Veröffentlichungen) in Erziehung, Ausbildung und Bildung dem jeweiligen »new normal« anzupassen. Die Methoden sind zu modernisieren, das Ziel bleibt.
Beibehalten wird auf jeden Fall der Ansatz, Erziehung und Bildung nicht unterschiedslos »an alle« zu verteilen, bis »es« auch der letzte kapiert hat (solch ein Fall erwiese nur die Unfähigkeit der Lehrkraft), sondern per schulischer Konkurrenz, »Begabungssichtung« genannt, eine Auslese zu veranstalten, die deren Teilnehmern die ihnen entsprechenden Klassenplätze zuweist. (So ähnliches war einmal einer Latrinenparole an der Trennwand einer Unitoilette zu entnehmen: »Those who can – do. Those who can’t – teach. Those who can’t teach – administrate.«)
Mit den neuen Möglichkeiten kann das bewährte Erziehungsziel anders verfolgt werden. Um für digitales Bescheidwissen Raum zu schaffen, ist Verabschiedung von vorgestrigen »Kulturtechniken« geboten. Wegfallen können nun neben etlichem mehr z. B. manuelle Verschriftlichung und Memorieren, also »stupides Auswendiglernen«. Weshalb sich den Spruch »non scholae sed vitae discimus« merken oder ellenlange Balladen aufsagen? (Hauptschüler – die jetzt weniger klassistisch anders heißen – sind mit so etwas übrigens noch nie behelligt worden.) Und Lehrplanentrümpelung, Entsorgen von »Bildungsballast« war schon lange überfällig. Das wäre, so Heidi Reichinnek von »Die Linke«, ein großer Gewinn für Schüler, die ja etwas für ihre Leben Brauchbares lernen wollten und sollten. Damit wäre dann auch der fortwährende Streit um Noten vielleicht auch gar keine Konkurrenz mehr, aber falls doch, dann eine den nun einsichtigen Schülern wirklich gerecht werdende. Was will man mehr… Die Bildungsministerien zeigen sich den Zeichen der Zeit (»challenge«) gegenüber aufgeschlossen, denn Lernstoff war schon immer flexibel; er bleibt austauschbares Material für Schülervergleicherei. Auf die kommt es an.
Reichinneks Progressivität gegenüber stehen Kritiker, die sich um das Absinken des ehemals so vortrefflichen Bildungsniveaus zumindest der höheren Stände Sorgen machen. Zu beklagen seien Phänomene, die sich zerebral schädlich auswirken könnten. So warnt z. B. der »hysterisch vorgestrige« Manfred Spitzer vor »digitaler Demenz«. Andere monieren drohende Sprachverarmung, Denk- und Sprachverlust angesichts der Bequemlichkeit von »cut and paste« und der Einfachheit, Zeugs auf dem Handy zeigen zu können, das nicht mehr Kommentierung erfordert als »geil« und »voll krass«. Metz/Seeßlen schreiben von »Blödmaschinen«. An all dem mag etwas dran sein, aber was die Nützlichkeit von Erziehung und Bildung für den Einsatz im kapitalistischen Leben angeht, so fallen die angeprangerten Schäden nicht ins Gewicht, sind verkraftbar wie Feinstaub; eben der Preis einer, wie der Soziologe sagt, »flüchtigen Moderne« (Zygmunt Bauman). Für alle ist ohnehin »lebenslanges Lernen« angesagt, d. h. Privatinitiative zum Erwerb von »Kompetenzen« für den gerüsteten Umgang mit allen und jeden »Wechselfällen des Lebens« (vgl. PISA-Pädagogik und Ratgeberliteratur).
Wenn Herr Bernhard Bueb sich zum Lob einer wiederzubelebenden Disziplin des Lernens genötigt sieht, so mag die moderne Schule zwar nicht ganz seinem konservativen Tugendbild genügen. Am Erziehungsziel der Herausbildung staatsbürgerlicher Sittlichkeit aber macht sie keinerlei Abstriche. In den allermeisten Fächern (mit Ausnahme der wirklich naturwissenschaftlichen) und besonders explizit in Reli/Ethik/GK vermittelt sie eine Weltsicht, wie sie von »uns allen« eingenommen werden soll (»Test the West!«). Damit werden sowohl Pflichtschulstufen als auch Unis Besuchende beglückt. Und geeignete Materialien der Zentralen für politische Bildung für ein »sapere aude!« im Sinne der fdGO gibt es zuhauf, ein embarras de richesse, um es einmal hinreichend schöngeistig auszudrücken. Geglückter wie misslingender Erfolg im Hier und Jetzt geht auch ohne Anhäufung traditioneller Bildung; Schwundstufen davon (»Fack ju Göhte«) reichen, und wer mehr davon will, aber nicht braucht, kann sich ja in Wikipedia upcluen. Der Bildungsmohr kann gehen, und einen Kopf, den uns die Natur ja gegeben hat, damit es nicht in den Hals regnet, braucht man sich nicht mehr extra zu machen (stattdessen haben wir jetzt Handydaumen). Ausverkauf des Guten, Schönen, Wahren! Heul!
So entwertet sich zum Leidwesen von Advokaten eines als Bildungsroman zu vollziehenden Lebenswegs das, wie es der Bourdieu der »feinen Unterschiede« mit einer Schmarrenanalogie nennt, kulturelle »Kapital« (!). Elitenforscher bestätigen, das Erringen »verantwortungsreicher Positionen« setze »nicht mehr« die Kenntnis literarischer Klassiker und toter Sprachen voraus. Leider könnten heute auch Personen aufsteigen, die mit ihren verbalen Schnitzern die Nation der Dichter und Denker blamierten. Vorbei die Zeiten, in denen sich Staatenlenker (Schmidt/Heath) wechselseitig anorgeln konnten. Les neiges d’antan; die Verhältnisse, sie sind nicht mehr so. Früher war alles besser, mehr Lametta, pardon, Bildung. In dieser Vorstellung von Kultur als verdienter Berechtigung zu Machtkarrieren steht die Welt auf dem Kopf. Helmut Schmidt befähigte nicht seine Beherrschung der Orgel dazu, das Sagen zu haben, auch wenn, was nicht auszuschließen ist, der eine oder andere Wähler ihm deshalb seine Stimme gegeben haben könnte. Und weder Churchill noch Hitler wurden ihrer Malkünste wegen zu »Menschen, die Geschichte machten«.
Kultur & Bildung waren und sind, sofern nicht dem Broterwerb dienend, die »schönen Dinge des Lebens« und am schönsten mit Geschmack & Niveau, denn Trash-TV zu glotzen wäre einfach nur prollig. Und man selbst ist ja doch wohl hip. (Wobei, entre nous gesagt, z. B. der kreative Einfall, das »Arschgeweih« einer Dame als »Schlampenstempel« zu bezeichnen, doch schon irgendwie ein gebildeter Jokus ist, ne? Da muss man sich doch einfach auf die Schenkel schlagen.) Bildung kann ein Accessoire sein, mit dem man sich als Konversationsgenie profilieren und begriffslos zu allem und jedem möglichst viel »wissen«, genauer: kennen und davon gehört haben kann (Stichwort »Darstellungskompetenz«); wie das geht, machen in Quizsendungen zu Bewundernde vor. Wie eine Wohnungsausstaffierung mit edlem Design aus »Manufactum«-Höllen auch erbringen schöne Künste und anspruchsvolle Bücher den Erweis kultureller Vervollkommnung, eines – oh là là! – savoir vivre von Connaisseurs (neben dem es übrigens noch einen umgedrehten Snobismus gibt). Nur: Stil zu haben muss man sich erst einmal leisten können, aber das hat man sich bis jetzt auch irgendwie verdient; natürlich kann das nicht jeder haben.
Nun gibt es technisch begründeten Anlass dafür, dass ein oft des Biedermeiers geziehenes Bürgertum, das sich einbildet, seine Bildung müsse sich quasi naturgesetzlich auch irgendwie rentieren, seine Arriviertheit bedroht sieht. Durch einen Kulturkampf der Ungebildeten. Barbarei stehe ins Haus. Darum geht es aber gar nicht. Sondern: Weshalb auch sollten Staat und im Unterschied zu Bourdieu wirkliches Kapital eine obsoleter werdende Bildung noch flächendeckend am Leben erhalten, wo es jetzt für den Standort Deutschland doch eine neue, andere »Bildungsoffensive« braucht?
Und: die klassische Bildung wird ja nicht einfach abgeschafft. Wer will und nach Maßgabe seines Geldbeutels kann, der/die soll einfach auf private Eliteschulen und in Exzellenzcluster gehen oder seine Kinder dorthin schicken. Business as usual – was für gestandene Meritokraten und Glücksschmiede ja auch in Ordnung geht.
Während sie in der heilen Welt ihrer schulischen Wagenburgen Zuflucht vor dem Verlust zivilisatorischer Errungenschaften suchen, schließen sie sich als wertvolle Volksgenossen, also Deutsche von echtem Schrot und Korn, mit ihrem Nationalstaat zu einer Kriegstüchtigkeit zusammen, die dieser tatkräftig realisiert, was immer es auch braucht. Nicht zuletzt opferbereite Patrioten, AssiBanausen ebenso wie Uniabgänger mit Prädikatsabschlüssen. Der Tod behandelt denn auch alle gleich, auf ihren jeweiligen Posten. Das ist die ultimative Dienstleistung des Staates an seinem Volk, das diese mit Husarenliebe von ihm erwartet. »Wohlan, die Zeit ist kommen… geritten muss es sein«. Zumindest das versteht doch jeder, und mehr bedarfs nicht.


„Kultur & Bildung… blablabla…. Zumindest das versteht doch jeder, und mehr bedarfs nicht.“ Nein, ich kann das nicht verstehen weil es mir die ableistische Gang 99zueins nicht richtig erklärt hat. Das Kinderfoto, der Aufmacher, das Format und der Text lädt nicht dazu ein den Gedankengängen von 99zueins zu „Informationsgesellschaft“ zu folgen.
Können Sie die Kernaussage des Artikels in einem Absatz zusammenfassen ohne das ich den Eindruck bekommen muss Sinis wäre eine KI? Ich bin nämlich nach 99zueins „einfach nur prollig“ oder auch „geistig behindert“. Pingback, helfe 99zueins zu mehr Sternen!