12. September 2024

Herbert Auinger: Nachtrag zu meiner Diskussion mit Thanasis Spanidis auf 99 ZU EINS über den bürgerlichen Staat

Nachtrag zu meiner Diskussion mit Thanasis Spanidis auf 99 ZU EINS über den bürgerlichen Staat, die betreffenden Episoden 394 und 403 sind hier zu sehen: https://99zueins.fireside.fm/394https://99zueins.fireside.fm/403 Mein Motiv, hier nachzulegen, besteht darin, dass ich mir beim Durchgang durch die schriftliche Fassung der Thesen von Spanidis leichter tue; ich muss zugeben, dass mir beim verbalen Nachvollzug des Geschwurbels […]
99 ZU EINS

Nachtrag zu meiner Diskussion mit Thanasis Spanidis auf 99 ZU EINS über den bürgerlichen Staat, die betreffenden Episoden 394 und 403 sind hier zu sehen:

https://99zueins.fireside.fm/394
https://99zueins.fireside.fm/403

Mein Motiv, hier nachzulegen, besteht darin, dass ich mir beim Durchgang durch die schriftliche Fassung der Thesen von Spanidis leichter tue; ich muss zugeben, dass mir beim verbalen Nachvollzug des Geschwurbels von „herrschende Klasse – Bourgeoisie – Staat – ideeller Gesamtkapitalist – politisches Subjekt – Klassengesellschaften – Lobbying“ usw. öfter der rote Faden verlorenging.
T.S. hat die folgenden fünf Thesen vorgetragen, meine Anmerkungen sind angefügt.

Herbert Auinger

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Thesen zum marxistischen Verständnis des bürgerlichen Staates (Thanasis Spanidis)

  1. Der Staat als eine von der Gesellschaft als Ganzer abgesonderte und institutionalisierte, d.h. in permanente und geregelte Formen verfestigte Gewalt entsteht historisch mit der Entstehung von Klassengesellschaften und dem Privateigentum. Sein Existenzgrund und Zweck ist die Regulierung, Durchsetzung und Absicherung der herrschenden Eigentums- und Produktionsverhältnisse und damit die Durchsetzung des Interesses der jeweils herrschenden Klasse. Dieses Interesse wird auch nach außen hin vertreten im Verhältnis zu anderen Staaten, die jeweils ihre herrschende Klasse vertreten und mit denen es sowohl zu Konflikten als auch zu Kooperation kommt, je nachdem, was dem Interesse der herrschenden Klasse am meisten zuträglich ist.

Der bürgerliche Staat ist in diesem Verständnis eine spezielle Variante eines allgemeinen Verhältnisses von Staat und herrschender Klasse. Der Staat beherrscht die von ihm getrennte Gesellschaft als Ganze, permanent und in geregelten Formen; er setzt damit Eigentums- und Produktionsverhältnisse und Klassengesellschaften – indem diese „verfestigte Gewalt“ eben die Gesellschaft beherrscht und damit diktiert, was ökonomische Sache ist. Wenn der Staat das Interesse der „jeweils herrschenden Klasse“ durchsetzt, ist allerdings das Prädikat „herrschend“ bei „herrschender Klasse“ entwertet – eine herrschende Klasse, die ihre Interessen nicht durchsetzt, verdient dieses Gütesiegel nicht; und warum eine höchste Gewalt ausgerechnet die Interessen einer nicht-herrschenden, ihr also unterworfenen Klasse durchsetzt, ist bislang unerfindlich.

Worin besteht es denn inhaltlich, dieses Interesse der jeweiligen nicht-herrschenden Klasse? Es wird nicht positiv bestimmt, sondern indirekt – es besteht immer in dem, wofür der jeweilige Staat gerade eintritt; das wird im Verhältnis der Staaten „nach außen“ verdeutlicht: Staaten vertreten die Interessen dieser seltsamen nicht-herrschenden Klassen, und worin diese Interessen bestehen, das wird mit dem identifiziert, was die Staaten vertreten, durch „Kooperation als auch Konflikt“. Die einleitende These bezieht sich ausdrücklich auf verschiedene Produktionsverhältnisse und auf verschiedene „herrschende Klassen“ und deren immer gleiches Verhältnis zum dienstleistenden Staat, im Feudalismus wie im bürgerlichen Getriebe: „Staat“ und „herrschende Klasse“ sind ebenso inhaltsleer wie zirkulär aufeinander bezogen. Der Staat ist durch die Vertretung der Interessen der „herrschenden Klasse“ charakterisiert, und deren Interessen bestehen darin, dass der jeweilige Staat sie vertritt.

  1. Im Staat organisiert sich die jeweils herrschende Klasse. Das ist grundsätzlich der Fall, unabhängig davon ob die herrschende Klasse mit dem Staat direkt personell verschmolzen ist, wie im europäischen Feudalismus, oder relativ getrennt von ihm existiert wie in der bürgerlichen Gesellschaft. Auch in der letzteren wird die Bourgeoisie vom Staat organisiert und organisiert sich in ihm, bspw. in Unternehmerverbänden, Lobbying-Gruppen, aber auch Stiftungen, Think-tanks, bürgerlichen Parteien, parlamentarischen Ausschüssen usw. usf. Je nach Fallbeispiel sind direkte personelle Verflechtungen („Drehtüreffekte“) relevanter oder weniger relevant. Entscheidend ist aber, dass die Bourgeoisie als politisches Subjekt, also in einem Zustand, wo sie die Zersplitterung der Einzelkapitale überwunden hat, nicht unabhängig vom Staat existiert. Der Staat formuliert als Grundlage seiner Politik ein Gesamtinteresse der Bourgeoisie („ideeller Gesamtkapitalist“), dies tut er aber nicht im „luftleeren Raum“, sondern als Ergebnis eines ständigen Evaluations- und Aushandlungsprozesses in den Staatsapparaten. Dabei versuchen die einzelnen Kapitalisten und Kapitalgruppen sowohl, gegenüber den konkurrierenden Interessen der anderen Kapitalisten ihr Interesse durchzusetzen als auch gegenüber der Arbeiterklasse und anderen Volksschichten.

Wie setzt sich die nicht-herrschende Klasse im Staat durch? Die einleitende, etwas diffuse Vorstellung einer unbestimmten formellen Doppelherrschaft von Staat und herrschender Klasse wird aufgelöst, indem sich die nicht-herrschende Klasse organisiert und Einfluss auf den Staat gewinnt, was ihren nicht-herrschenden Status erst mal unterstreicht. Der kleine Unterschied, ob sich diese Klasse selbst im Staat ihrer Interessen wegen organisiert, oder ob sie vom Staat – der keinen eigenen Maximen folgt – organisiert wird, spielt keine Rolle.

Die einleitende „Absonderung“ einer „herrschenden Klasse“ vom „Staat“ auch im Feudalismus widerlegt sich durch die Ausmalung einer „personellen Verschmelzung“ selbst: Was nicht getrennt ist, kann auch nicht verschmelzen; die These von einer getrennten Existenz jedes jeweiligen Staates ist zurückgenommen. Das Konstrukt ist insofern erhellend, als die feudale „herrschende Klasse“ ihre Interessen selbst durchsetzt, die Doppelherrschaft ist eliminiert, herrschende Klasse und Obrigkeit sind identisch; im Feudalismus ist die Welt in Ordnung, politische Macht und ökonomischer Reichtum fallen zusammen. Wie bewerkstelligt nun der nicht „verschmolzene“ bürgerliche Staat das feudale Ergebnis?

Mit einem funktionalen Äquivalent zur „personellen Verschmelzung“; das Pendant im Kapitalismus ist die „personelle Verflechtung“ von Staat und Kapitalisten via „Drehtür“ hin zur nur mehr „relativen“ Trennung von Staat und Gesellschaft. Die Kapitalisten platzieren ihre Agenten im Staat, über „Unternehmerverbände, Lobbying-Gruppen, aber auch Stiftungen, Think-tanks, bürgerliche Parteien, parlamentarische Ausschüsse“ – alles dasselbe, alles Personalmanagement? In der bürgerlichen Gesellschaft geht es dann zu wie im Feudalismus, zumindest im Ergebnis, die Reichen sind ebenfalls die Mächtigen. (Warum kriegen Gewerkschaften und Arbeiterparteien keinen Fuß in die „Drehtür“ bzw. kein gescheites Lobbying hin?) Mit der „Verflechtung“ wird das Verhältnis von „Staat“ und „Bourgeoisie“ zur elastischen Doppelherrschafts-Leerformel: Abgesondert – relativ getrennt – verflochten, je nachdem und nach „Fallbeispiel relevanter oder weniger relevant“. Wie konvertiert nun eine Klasse ökonomischer Konkurrenten ihre gegensätzlichen Interessen in ein Staatsprogramm?

Die Redeweise vom „ideellen Gesamtkapitalisten“ besagt rationell, dass ein ökonomisches Gesamtinteresse auf Seiten kapitalistischer Konkurrenten nicht existiert; genau dieses wird nun postuliert, in Gestalt einer „Bourgeoisie als politisches Subjekt, also in einem Zustand, wo sie die Zersplitterung der Einzelkapitale überwunden“ hat, und das bei weiter existierenden „einzelnen Kapitalisten und Kapitalgruppen“ mit nach wie vor „konkurrierenden Interessen“! Weswegen der Staat als „Grundlage seiner Politik ein Gesamtinteresse der Bourgeoisie“ formuliert – was die „Bourgeoisie“ als herrschende Klasse und inzwischen obendreinals „politisches Subjekt“ offenbarnicht schafft.Sogar nach erfolgreicher Überwindung der „Zersplitterung der Einzelkapitale“ – die Kapitalisten konstituieren sich als Supermonopol und regieren als materieller Gesamtkapitalist? Weswegen antichambrieren die Kapitalisten und Verbände beim Staat, und versuchen nicht, bei ihren Konkurrenten, bei den anderen Kapitalisten, ihre Interessen durch Lobbying durchzusetzen, was sie müssten, wenn die Kapitalisten in Form einer „personellen Verflechtung“ das Sagen hätten? Durch diesen politökonomischen Einheitsbrei (Staat – herrschende Klasse – Bourgeoisie – politisches Subjekt – Gesamtkapitalist) – bewältigt dieser M-L sein Dilemma einer politisch herrschenden Klasse, die aus ökonomischen Konkurrenten besteht. Das Verhältnis der Kapitalisten zur Arbeiterklasse ist in diesem Gemälde übrigens durch einen bloß graduellen Unterschied charakterisiert – erstere schaffen es besser, ihre Interessen beim Staat zu deponieren.

Deswegen der Vollständigkeit halber die Erinnerung: Die konkurrierenden Kapitalisten setzen ihre Interessen durch die Benutzung der Arbeitskraft durch; in der ständigen Umwälzung von Technik und Organisation im Betrieb, in der permanenten Modifikation des Verhältnisses von Lohn und Leistung – so geht Kapitalismus! Das staatlich lizenzierte Kommando über die Arbeit ist das Mittel der Kapitalisten!

  1. Das Wesen jedes Staates ist bestimmt dadurch, auf welchen Produktionsverhältnisse er beruht. Der bürgerliche Staat ist der Staat des Kapitalismus, d.h. des Kapitals, dessen Akkumulation er fördert. Die Durchsetzung der politischen Herrschaft der Bourgeoisie ging historisch nicht reibungslos von statten, sondern als revolutionärer, teils sehr gewaltsamer Prozess, der unterschiedliche Formen annehmen konnte. Diese Macht gibt die Bourgeoisie seitdem nicht mehr aus der Hand, sie kann ebenfalls nur auf revolutionärem Wege gestürzt werden.

In der Tat, der bürgerliche Staat ist der Staat des Kapitalismus, er fördert die Akkumulation des Kapitals. Dieser M-L kommt von der Vorstellung der „politischen Herrschaft der Bourgeoisie“ im Staat oder durch den Staat oder mittels des Staates oder als Staat nicht los: Er kann sich den Reichtum der Kapitalisten in den bürgerlichen Verhältnissen nur so erklären, dass letztlich realiter doch nicht der Staat herrscht, sondern die Kapitalisten, oder die Kapitalisten im oder über oder mit dem Staat.

Warum diese „politische Herrschaft der Bourgeoisie“ – die „Absonderung“ des Staates ist wieder mal und endgültig vorbei – nur auf „revolutionärem Wege gestürzt“ werden kann, ist aus der Darstellung nicht ersichtlich. Sie beruht doch bloß auf dem geschickten Lobbying und der gekonnten Personalpolitik einer gut organisierten Kapitalistenklasse, die damit ihre Interessen effizienter als die „Arbeiterklasse und andere Volksschichten“ im Staat geltend macht. Vielleicht hält der Autor deswegen eine Bekräftigung für nötig:

  1. Der bürgerliche Staat ist als Klassenstaat der Bourgeoisie von seinem Wesen her gegen die Arbeiterklasse gerichtet: Letzten Endes ist sein höchster Zweck, eine Machtübernahme der Arbeiterklasse zu verhindern. Er bekämpft dazu nicht nur die kommunistischen Parteien, sofern sie wirklich kommunistische Parteien sind, sondern verhindert auch jede Bestrebung zur eigenständigen Organisierung und Interessenvertretung der Arbeiterklasse. Er setzt die Anforderungen der kapitalistischen Akkumulation durch, durch Arbeitsmarkt- und Rentenreformen, durch restriktive Gewerkschafts- und Tarifeinheitsgesetze, durch den Ausbau des Repressions- und Überwachungsapparats und natürlich auch durch internationale Abkommen und imperialistische Kriege.

Der Staat ist wieder als Dienstleister für die nicht-herrschende Klasse unterwegs: Aber warum geht es dem Staat darum, die „eigenständige Organisierung und Interessenvertretung der Arbeiterklasse zu verhindern“? Um eine nach dem Vorbild der Bourgeoisie naheliegende „Machtübernahme der Arbeiterklasse zu verhindern“, die mit einem „Staatsapparat“ ohne eigene Räson und ohne Agenda viel anfangen und dadurch selber zur „herrschenden Klasse“ aufsteigen könnte? Mit einem Apparat, der gar nicht als bürgerliche, sondern als zweckfreie Struktur im potentiellen Dienst an beliebigen Interessen unterstellt ist, die sich jeweils seiner bedienen können, wenn sie nur so gut organisiert sind wie die Kapitalisten? Über wen wollte denn die Arbeiterklasse herrschen? Warum hat der Staat etwas gegen die Arbeiterklasse, wenn er sich so locker mit den Kapitalisten „verflechten“ lässt? Ist das ungerecht? Es soll übrigens einmal die Vorstellung gegeben haben, durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts könne das Proletariat den bürgerlichen Staat endlich durch die Vordertür betreten – was ist bloß daraus geworden?

Der Vollständigkeit halber die entscheidende Frage: Worin besteht denn das Interesse der Arbeiterklasse, das sich nicht „eigenständig“ organisieren darf? Das marktübliche Interesse an Arbeitsplatz und Lohn kettet diese Klasse jedenfalls an die Kapitalisten.

Der Klassenstaat der Bourgeoisie ist von seinem Wesen her“ eben nicht „gegen die Arbeiterklasse gerichtet“ – der Klassencharakter des Klassenstaates besteht im positiven Bezug auf beide Klassen, auch auf die Arbeiterklasse; im Text ist der Sozialstaat in der „Rentenreform“ angesprochen. „Aus dem bisher Entwickelten folgt, daß in einer freien Nation, wo Sklaven nicht erlaubt sind, der sicherste Reichtum aus einer Menge arbeitsamer Armen besteht.“ (Bernard de Mandeville, nach Marx) Der wahre Reichtum der Reichen, das sind die arbeitsamen Armen, und um diese Ressource wird sich vom Staatgekümmert. Weil die sich in ihrer Armut weder Bildung, noch Medizin, noch Arbeitslosigkeit und erst recht nicht den Lebensabend aus dem normalen Einkommen finanzieren kann; daher verwendet der Staat Steuermittel für die Schulen und verhängt ein kollektives Sozialversicherungssparen der Arbeiterklasse für die „Wechselfälle“ des Lebens im Kapitalismus: Damit die Armen trotz Armut brauchbar werden und bleiben, sofern das „historisch-moralische Element“ des Arbeitslohns das überhaupt hergibt. Das alles und mehr kriegt eine besitzende Klasse gar nicht hin, die mit ihrer Bereicherung voll ausgelastet ist.

  1. Ist der Staat nun „Werkzeug“ des Volkes oder sein Feind? Wenn unter „dem Volk“ die Gesamtheit der Staatsbürger verstanden wird, ist er offensichtlich keins von beidem, weil „das Volk“ kein gemeinsames Interesse hat (s.u.). Verstehen wir dagegen, wie es im Marxismus üblich ist, unter dem Volk vor allem die Arbeiterklasse und andere vom Kapital unterdrückte und bedrängte Klassen und Schichten, v.a. kleine und mittlere Bauern, das urbane Kleinbürgertum, Angestellte und Beamte auf den unteren Ebenen der Staatsapparate usw., also die gesamte Gesellschaft unter Ausschluss eben der herrschenden Klasse und ihres politischen Herrschafts- und Verwaltungspersonals, dann ist der bürgerliche Staat zweifellos Feind des Volkes. Denn gegen dieses Volk muss er ständig die Interessen des Kapitals gewaltsam durchsetzen. Das ist für die revolutionäre Strategie relevant, weil es dadurch eben möglich wird, über die Arbeiterklasse hinaus auch einen Teil der sonstigen Volksschichten auf Grundlage ihrer objektiven Interessen für den Sozialismus zu gewinnen.

Wenn man auch Bauern und Angestellte und Beamte damit konfrontieren will, dass sie es im und mit dem Kapitalismus nicht besonders gut getroffen haben – das ist eine Sache. Wieso es dafür nötig oder sinnvoll sein sollte, sich ein spezielles Verständnis vom „Volk“ zurechtzulegen, nämlich ausgerechnet den Arbeitsplätze schaffenden Teil des Volkes aus diesem auszubürgern, ideell – das folgt jedenfalls nicht aus diesem agitatorischen Anliegen. Es sei denn, man hat auch als Marxist die Zeichen der Zeit vernommen und möchte den „marxistischen“ Klassenkampf in einen kleinen nationalen Aufstand – gegen das Kapital, versteht sich – transformieren, oder wenigstens zusätzliche Interessen gegen die Kapitalisten mobilisieren, beim „Lobbying“. Es taugt generell nichts, sich die Welt entlang der eigenen Bedürfnisse und einer „revolutionären Strategie“ zurecht zu denken. Existiert „das Volk“, oder ist das die Frage einer beliebigen, womöglich auch „marxistischen“ Sichtweise?

Übrigens, das Volk hat bzw. kriegt schon ein „gemeinsames Interesse“ auferlegt: Das ist die vom Staat definierte Sache der Nation.

The rich, the poor and the mighty:
Vergleichen, aber richtig!

Dieser seltsame M-L versteht nicht, was es bedeutet, von Staats wegen die spezifisch kapitalistische Produktionsweise zu etablieren und zu elaborieren – und was da alles enthalten ist, in der politischen Gestaltung der gesellschaftlichen Arbeit für abstrakten Reichtum. Es ist von Produktionsweisen die Rede, aber ohne die kapitalistische näher zu bestimmen, weil diese wie der Feudalismus unter ein allgemeines Verhältnis der Reichen – vulgo „herrschende Klasse“ – zu den Mächtigen – vulgo „Staat“ – subsumiert wird. Die politische Macht im bürgerlichen Staat dient ersichtlich nicht dem privaten Reichtum der Amtsträger – und falls doch, liegt Korruption vor. Aus der eindeutigen Verteilung von Arbeit und Reichtum „schließt“ bzw. entlarvt der M-L, dass letztlich doch die Reichen auch die Mächtigen sein müssen, weil die Amtsträger deren Interessen bedienen. Das stimmt sogar, fragt sich nur, warum.

Der Vergleich mit dem Feudalismus hätte da schon etwas erhellen können, aber anders: Im Feudalismus ist die Naturalform des Reichtums die Quelle der Macht der Könige, Getreide oder Vieh etwa, ein paar Handwerker gab es auch. Die Produzenten des Reichtums sind an den Boden gebunden und ihren Herrn untertan. Im Kapitalismus hingegen ist der abstrakte Reichtum das Mittel der Herrschaft, und der erheischt einen völlig anderen Umgang mit der Gesellschaft und dem Reichtum; um den zu etablieren, muss die Herrschaft ihren hoheitlichen Zugriff und damit sich ändern. Spätestens mit der Umstellung von der Natural- auf die Geldsteuer macht die Obrigkeit, gern auch noch mit einem Gottesgnadenkönig an der Spitze, eine eindeutige Erfahrung: Wenn das mit der Geldsteuer etwas werden soll, dann muss die politische Macht der Geldwirtschaft auch den Weg bahnen; muss dafür sorgen, dass das Geld bzw. deren Inhaber zwar nicht die Welt, die Wirtschaft aber schon regieren, durch das Eliminieren ständischer, klerikaler, feudaler Hindernisse – indem also der Staat sein Regime von Eigentum und Geld weiterentwickelt und die nunmehrigen kapitalistischen Erwerbsbürger in die Freiheit und Gleichheit entlässt, ev. sogar nach einer Revolution!

Das alles verlangt ein Gewaltmonopol, so dass das Eigentum, das Gesetz, das Geld, die freie Lohnarbeit, die Steuern flächendeckend bis ins letzte Dorf fraglos gültig sind. Für diese Leistungen im Dienst einer kompletten Eigentumsordnung kann der Staat keine anderen Mächte neben sich dulden. Dann lebt der moderne Staat – in Europa und Nordamerika, im globalen „Süden“ nicht unbedingt – von der Arbeit seiner auf dieser Basis beschäftigten Bürger, die er den Kapitalisten, dem stummen Zwang der Verhältnisse ausliefert. In diesem Sinn herrscht die besitzende Klasse qua Eigentum über die Mittel ihrer Bereicherung, und deren erpresserische Wirkung auf die Proletarier:

„Die Kapitalisten müssen akzeptieren, dass die politische Absicherung ihrer privaten Macht über die anderen in die Zuständigkeit einer von ihnen getrennten Instanz fällt. Die Proletarier müssen respektieren, dass ihre Unterordnung unter ‘die Wirtschaft’ ihre Berechnungen regelmäßig durchkreuzt, dennoch die Bedingung für alles ist, was sie von der Herrschaft zu erwarten haben. Der demokratische Rechtsstaat weist den konkurrierenden Interessen ihren Stellenwert dadurch zu, dass er sie gemäß den Regeln der Konkurrenz und den Erfordernissen des Gemeinwohls zum Zuge kommen lässt.“ (GegenStandpunkt 4-19)

Indem der Staat den Kapitalismus reguliert, fördert er den Reichtum der Reichen, deren Reichtum ist nämlich der „Reichtum der Nationen“. Die politische Machtjede Herrschaft, um auch einmal die Historie zu erwähnen, lebt vom Reichtum, der in ihrer Gesellschaft zustande kommt. Die Kapitalistenklasse ist in dem Sinn der Treuhänder der Ausbeutung der Arbeiterklasse im Staatsinteresse und im Staatsauftrag. Kapitalisten lassen arbeiten, das ist ihr Dienst am Staat! Dieser M-L, der von der politischen Ökonomie und deren Gesetzen wenig Ahnung hat, könnte sich den Staat offenbar viel ausgewogener vorstellen, würde nicht immer das von Kapitalisten entsandte Personal dazwischengrätschen.

Vermischtes

„Entsteht“ der Staat „historisch mit der Entstehung von Klassengesellschaften und dem Privateigentum“? Kann schon sein, dass da mal Klassenkämpfe eine Rolle spielten. Das bedeutet nicht, dass der fertige bürgerliche Staat die abhängige Variable von Klassenkämpfen oder von Interventionen konkurrierender Kapitalisten sein und bleiben muss. Staatliche Gewaltmonopole grenzen sich sachgerecht qua Gewalt gegeneinander ab oder werden abgegrenzt. Nach der Aufteilung ganzer Kontinente als Kolonien – Eroberungen der durch den Kapitalismus reich und mächtig gewordenen Nationen! –, und nach zwei Weltkriegen „entstanden“ die modernen Staaten als Kriegsergebnisse, ob mit oder ohne nationale Befreiungsbewegungen. Im Zuge der Entkolonialisierung haben die Kolonialmächte dafür gesorgt, dass überall „Staatsapparate“ etabliert wurden – einheimische Eliten haben sich gefunden –, die um ihrer Selbstbehauptung willen ihre neu gewonnenen „Völker“ bewirtschaften wollen, deswegen auf auswärtige Kapitalisten gesetzt haben, was zu mancher Enttäuschung geführt hat.

Es hat außerdem zwei anders organisierte Atommächte gegeben, die wollten im Interesse der Arbeiterklasse herrschen, die Arbeiterklasse dadurch zur herrschenden Klasse machen. Die Sowjetunion bzw. ihre Nachfolger und auch China haben sich durch den praktischen Systemvergleich mit dem Feind dahingehend belehren lassen, dass der Kapitalismus die überlegene Form der Ausbeutung ist, dass die Kapitalisten mehr aus dem Proletariat herausholen als der Staat des Proletariats – und haben dann durch eine Revolution von oben ihr altes System entsorgt und ersetzt. In China von Anfang an und inzwischen auch in Russland haben die Machthaber beherzigt, dass die Einrichtung und der laufende Betrieb einer Marktwirtschaft eine Sache permanenter Staatstätigkeit ist, wie im Westen immer schon. Weder da noch dort gab es eine Kapitalistenklasse, die als „herrschende Klasse“ ihre creatio ex nihilo durch den Staat hätte fordern können. Ein Proletariat gab es schon, das hat aber auch nicht für den Kapitalismus gekämpft. Muss es denn „immer um Ausbeutung gehen?“ Klar, indem doch die Herrschaft das Subjekt jeder politischen Ökonomie und Dreh- und Angelpunkt ist! Dieser M-L könnte sich offenbar viele nützliche Organisationsleistungen einer gewaltbereiten Obrigkeit als des Volkes Werkzeug vorstellen.

Zur spannenden Frage, was ein wirklich souveräner Staat denn noch alles machen könnte: Nun, die Staaten haben im Zug der Bekämpfung der Pandemie beachtliche Teile der Wirtschaft durch einen „Lockdown“ lahmgelegt, Geldverdienen und Bereicherung in einigen Branchen verboten und Schulen geschlossen. Im Interesse der Volksgesundheit, bis sich die Krankheit durch Quarantäne, Maskentragen, und fortschreitende Immunisierung durch Infektionen und Impfungen soweit eingebremst hat, dass Covid 19 nunmehr als „normale“ Begleiterscheinung das Erwerbs- und Freizeitleben nicht mehr durcheinanderbringt. Bis auf weiteres. Für den Lockdown gekämpft hat weder die Kapitalisten- noch die Arbeiterklasse. Weil der Staat selber die Produktion und Zirkulation unterbunden hat, erklärt er sich auch für zuständig, die Verluste zu ersetzen; da kann man, wenn man darauf aus ist, sicher viele Ungerechtigkeiten entdecken.

Admin991
Author: Admin991

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