Versuch zur Frage: „Warum hat die Hamas „das“ gemacht?“
Zunächst: Was hat sie gemacht?
a) Sie hat zum ersten Mal seit Jahren durchbrochen das größte und best bewachte Freiluftgefängnis der Welt.
b) Ihre Kämpfer haben mit prekären Mitteln zu Land, zu Luft und zu Wasser israelisches Territorium erobert und – wenn auch nur für kurze Zeit – besetzt.
c) Sie hat Vertreter des israelischen Staates überwältigt, Kasernen erobert, Soldaten getötet, gefangen genommen und verschleppt.
d) Sie hat – obgleich von einigen Hamas Führern dementiert – Massaker in erheblichem Umfang unter der israelischen Zivilbevölkerung angerichtet und auch dort viele Gefangene gemacht und verschleppt.
e) Insgesamt haben sie vermutlich 1.400 Israelis getötet und 190 gefangen genommen.
a) Zunächst demonstriert der Angriff die Fähigkeit und den Willen der Hamas zum Kampf, selbst unter der Bedingung weltweiter Ächtung, permanenter Bekämpfung und einer totalen Einkreisung durch Israel.
b) Weiter stellt der Angriff den Kampfeswillen einer Bewegung unter Beweis, die gegen eine Übermacht antritt, gegen die sie militärisch keine Chance hat.
c) Die eingeplante Selbstaufgabe der Hamas-Kämpfer bezeugt die Bereitschaft, sich von der Vernichtungspotenz des Gegners nicht beeindrucken zu lassen, d.h. nicht aufzugeben bzw. zu zeigen, dass es in Gaza keine Möglichkeit zum Arrangement mit dem Status Quo geben kann.
d) Weiter zielt der Charakter des Himmelfahrtskommandos darauf, Israels als waffenstarrend und militärisch überlegen aber angesichts der eigenen Entschlossenheit als ohnmächtig zu blamieren. Muster: Ihr könnt und ihr werdet uns töten aber der Kampf geht weiter, weil wir keine Angst vor dem Tod haben. >
B/Kanal: Worin besteht die Strategie hinter der Attacke?
Zunächst einmal: Alles was seitdem als „Reaktion“ auf den Angriff passiert, hat Hamas nicht mehr im Griff und geht nicht von ihr aus. Von Strategie im Sinne einer Beherrschung der Lage oder gar der Beherrschung der Entwicklung kann insofern absolut nicht die Rede sein. In diesem Sinne handelt es sich auch um keine Strategie.
Eine gänzlich berechnungslose Verzweiflungstat Einzelner liegt allerdings auch nicht vor. Worauf kann der Angriff daher berechnet sein?
a) An die Adresse der Palästinenser demonstiert der Angriff die Bereitschaft und Fähigkeit zum Kampf aus der Position der Ohnmacht. Die Aktion als Fanal.
b) Im Machtkampf der Hamas mit der ehemals dominierenden, eher laizistisch-sozialistischen Fatah, die im Oslo-Abkommen einem Frieden zugestimmt hat, den Israel lediglich zur immer weitergehenden Vertreibung, Entmachtung und Ruinierung nutzt, zeigt sich die islamistische Hamas als glaubwürdige und standhafte Partei des Widerstands. Die seit 2006 durch Wahlen eigentlich bereits vollzogene, aber dann von Fatah vereitelte Entmachtung der PLO soll so über die Herzen und Fäuste der Palästinenser in der Westbank doch noch erreicht werden. Die ohnmächtige Berechnung zielt insofern auf die Entmachtung von Abbas in Ramallah.
c) Die aus vorangegangenen Attacken leicht einkalkulierbare „Reaktion“ Israels beinhaltet in jedem Fall „Gegenschläge“, die auf ein Vielfaches an Opfern unter der Zivilbevölkerung von Gaza zielen. Dies unterstellend, kann Hamas damit kalkulieren, dass der neue „Konflikt“ die tendenziell immer zur Trägheit und zum Arrangement mit unhaltbaren Zuständen neigende Zivilbevölkerung erschüttern und zum Entscheidungskampf nötigen will.
Doch vermutlich gehen die ohnmächtigen Berechnungen bzw. die Berechnungen, die gar nicht in der Macht der Hamas liegen, noch wesentlich weiter…
Worauf zielt der Anschlag im Hinblick auf Israel?
a) Zunächst blamiert der Angriff das israelische Militär in seinem Anspruch, die Palästinenser dank haushoher Überzahl und Übermacht jederzeit und überall unter Kontrolle zu halten.
b) Desweiteren blamiert er die Regierung Netanjahu, die im innerisraelischen Machtkampf für sich mit dem Argument wirbt, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen.
c) Der brutale Angriff auf Zivilisten, der auch Frauen und Kindern galt, dürfte einer weiteren Berechnung geschuldet sein. Nämlich der israelischen Bevölkerung zu zeigen, dass die oberste Staatslegitimation Israels, jüdisches Leben zu schützen, unter der Bedingung von Besatzung, Apartheid und Siedlerkolonialismus nicht gewährleistet ist. Motto: Israel kann euch nicht schützen.
d) Möglicherweise, wenn auch nicht wahrscheinlich, hoffte man bei der Hamas darauf, dass sich die (an der „Verfassungsreform“ entzündete) Spaltung innerhalb Israels in Anbetracht der Katastrophe verschärft und Netanjahus rechte bis rechtsradikale Regierung zumindest mittelfristig durchs Militär, durch Proteste oder Wahlen entmachtet wird.
Allerdings ist die gegenteilige Entwicklung innerhalb Israels, d.h. die neue nationale Einheit im Kriegszustand ebenfalls nicht gerade verwunderlich. Die zentrale Zielrichtung des Angriffs der Hamas dürfte ohnehin an andere Stellen, insbesondere an die arabische und islamische Welt adressiert sein… >
B/Kanal: Unterbrechung der Reihe:
Inzwischen (21.10.) hat Israel eine Million Palästinenser aus ihren Wohnungen und Häusern vertrieben.
Ca. 30 Prozent der Häuser im gesamten Gazastreifen wurden bereits zerstört.
Eine Rückkehr ist damit unmöglich. Eine Flucht bisher ebenfalls. Die totale Blockade wird derweil von Israel fortgesetzt.
Das alles bezeichnet Israels Militär als erste von drei Phasen ihres Krieges „gegen die Hamas“. Worauf Phase 2 und 3 zielen, ist noch unklar.
Phase eins zielt allerdings offenkundig nicht (nur) auf Hamas sondern auf die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gaza-Streifen (in dem sie übrigens ebenfalls durch die Vertreibung bzw. Nakba von 1948 vertrieben wurden.)
Dafür müsste aber ein Fluchtweg aus dem von Israel abgeriegelten Gebiet geschaffen werden. USA und EU suchen ihre Stadthalter in Ägypten und Jordanien zur Aufnahme der Flüchtlinge zu zwingen. (Neben der entsprechenden Brutalität der Vertreibung ohne Chance auf Rückkehr beinhaltet das Widersprüche für Ägypten und Jordanien, die diese kaum aushalten können. Das muss an anderer Stelle erörtert werden….)
Zugleich sprechen israelische Politik auch von einer ‚Leningrader Lösung‘. (Durch die Blockade der Stadt durch die Wehrmacht sind eine Million Leningrader verhungert.) Explizit wurde nach der Bombardierung eines Krankenhauses und der Zerstörung der ältesten Kirche von Gaza (auf deren Gelände tausende Flüchtlinge Schutz gesucht hatten) nun auch das letzte noch funktionierende Krankenhaus des roten Kreuzes vom Militär zur sofortigen Evakuierung aufgefordert. Auch auf diesem Gelände haben sich tausende Flüchtlinge niedergelassen in der Hoffnung, hier vor Israels Bomben sicher zu sein. Israel dementiert diese Hoffnung, zwingt die Menschen dazu, weiter zu fliehen und das Personal dazu, eine hundert Transport-unfähige ihrem Schicksal zu überlassen.
Übrigens die Tonnage der Bomben und Raketen, die in den letzten Tagen über Gaza abgeworfen wurden, übersteigen nach Angaben des israelischen Militärs alles, was bisher überhaupt von Israel in den zahlreichen Kriegen und „Vergeltungsschlägen“ eingesetzt wurde.
Zwischenfazit: So oder so. Phase eins der israelischen Armee zielt auf die Lösung des Palästinenserproblems im Gazastreifen. Entweder durch Vertreibung. Oder durch Vernichtung der Zivilbevölkerung. Mit ihrem Veto gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsrates für eine Feuerpause und die Versorgung der Vertriebenen machen die USA klar, dass sie diese Lösung nicht nur billigen sondern ebenfalls wollen. Von der Leyen und Baerbock teilen das bekanntlich. Damit ist die Lösung Palästinenserproblems im Gazastreifen der Pal 2023 beschlossen. So oder so.