6. September 2023

Kapitalismus, Armut und der Staat

Aus einer Diskussion mit einem Twitter-User (TU): Gehört die Armut zum Kapitalismus? Kann der Staat sie mit Geld- und Fiskalpolitik eliminieren und für Vollbeschäftigung sorgen? TU: Denkt ihr, dass im Rahmen des Kapitalismus über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten hinweg eine materielle Besserung der Lebensbedingungen für die Mehrheit der Menschen realisierbar ist? 99ZUEINS: Das kommt […]
99 ZU EINS

Aus einer Diskussion mit einem Twitter-User (TU): Gehört die Armut zum Kapitalismus? Kann der Staat sie mit Geld- und Fiskalpolitik eliminieren und für Vollbeschäftigung sorgen?

TU: Denkt ihr, dass im Rahmen des Kapitalismus über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten hinweg eine materielle Besserung der Lebensbedingungen für die Mehrheit der Menschen realisierbar ist?

99ZUEINS: Das kommt ganz drauf an, was du meinst und worauf bezogen: Immerhin konkurrieren Kapitale, Arbeiter, Staaten um das gleiche – daher ist die Sache auch so brutal und unverträglich. Dass da Kapitale ihren Schnitt machen und bessere Löhne für die Reproduktion zahlen als weniger erfolgreiche, wird schon sein, verallgemeinert wird man das wohl nicht mal mehr für die erfolgreichen Staaten sagen können. Das liegt sowohl an dem jeweiligen Konkurrenzerfolg der nationalen Kapitale (alle können gar nicht gewinnen, wenn es um die gleiche Sache geht) und zudem an der Tatsache, dass der Erfolg des Kapitals dem Grunde nach aus dem Niedrighalten der Lohnkosten herrührt). Von den Krisen rede ich mal noch gar nicht. Insofern: Nein.

Anders rum: Du könntest Dich ja vielleicht auch mal fragen, warum nach 150 jahren selbst in den reichsten Ländern der erde die Armut und das Elend weiterhin Konstante sind und der Kampf gegen den Abwärtsdruck der Arbeiterklasse niemals erspart bleibt

TU: Der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, ist seit dem Beginn des Kapitalismus erheblich gesunken. Die Bemühungen, den Abwärtsdruck zu bekämpfen, resultieren aus dem Bestreben jedes Kapitalisten, die Löhne zu senken, um ihre Gewinne zu steigern, während die Arbeiter versuchen, dies zu verhindern. Obwohl es langfristige Schwankungen in der Lohnquote gibt, existiert kein eindeutiger, im Kapitalismus unvermeidlicher Trend in Richtung kontinuierlich steigender Kapitaleinkommen.

99ZUEINS: In wessen Namen redest du da eigentlich? Im Namen derjenigen, die von der Armut – absolut oder relativ…bestellt hat sie sicher keiner – systematisch betroffen sind? Oder im Namen eines fiktiven Staatenführers, der über der Klassengesellschaft thront und sich zugute halten will, das VERHÄLTNIS von Armut/Arbeit und Reichtum nicht so schlecht ist wie vor 10 Jahren? Und dann noch absieht von den Gründen für die Schäden an denen, die den Reichtum schaffen und darunter leiden müssen, weil sie die Seite derer, das Kapital, reicher machen durch ihre Arbeit? Und tu mal bitte nicht so, als wäre es ZWECK des Kapitalismus, absolute Armut (was das ist, weißt du doch sehr wohl aus dem Atlas der Weltwirtschaft) zu reduzieren. Dass es eine FOLGE ist, mag sein, interessiert aber nur so Staatenlenker, die Sorge haben, dass ihnen die Klassengesellschaft auseinanderplatzt, weil die „Schere“ zwischen Arm und Reich zu dick ist – die Armen wollen schlicht nicht arm sein.

TU: Ich spreche für mich selbst, und für wen sonst sollte ich sprechen?
Ob die Verringerung der Armut eine unbeabsichtigte Nebenwirkung oder ein Ziel des Kapitalismus ist, ist mir gleichgültig. Mir geht es um das Endresultat.

99ZUEINS: Und Dein Zweck ist die (vielleicht zufällige) Abnahme der Armut bei gleichzeitiger bewusster Schaffung von neuer Armut durch das Kapital und die Staaten (das ist nämlich da eingepreist, sind wir uns da einig?) P.S. Wäre btw bisschen wie der Papst, der hofft, dass es vielleicht mal den Armen auch besser geht 😀 sorry, kleine Polemik

TU: Wieso wird zwangsläufig neue Armut geschaffen?

99ZUEINS: Weil die Profitabilität von Kapitalistischen Unternehmen auf der Minimierung der Stückkosten, insbesondere der lohnstückkosten aus ist und durch die Konkurrenz zu immer weiterer Rationalisierung getrieben wird bzw. zur mangelnden Geschäftstätigkeit, welche sich dann letztendlich ausdrückt in kaum bedarfsdeckenden Löhnen und nicht angewandter Arbeitskraft (Überbevölkerung, „absolute Armut“). Von den damit folgenden notwendigen Krisen und ihren Folgen für die Leute rede ich an der Stelle noch nicht mal. Man kann es noch klarer ansagen: Armut ist Produktivkraft im Kapitalismus. Anders: ohne das damokles-schwert der Armut, würde der Arbeiter auch nicht immer wieder dazu angetrieben seine Lebenszeit für den Reichtum der Kapitalisten unter schäbigen und immer schäbigeren Bedingungen zu verheizen, die die die kapitalisten aber überhaupt brauchen um mit profit zu investieren. Die könnten nämlich auch zum schatzbildner werden und das Geld einfach zurückhalten und das machen sie auch wenn es sich für sie nicht lohnt. Und dann sieht man ganz schnell wie lange Wohlstand in dieser Gesellschaft aufrechterhalten werden kann, wenn das Kapital streikt.

TU: Deshalb sollte der Staat für Vollbeschäftigung sorgen. Wenn es Arbeitslosigkeit gibt, muss er nur die Ausgaben steigern oder die Zinsen senken. Das Kapital wird nicht streiken, solange sich ihm profitable Investitionsmöglichkeiten bieten. Ist das nicht der Fall, muss der Staat die Zinsen senken und die Ausgaben steigern.

99ZUEINS: Das war ein Beispiel, aber es ging ja vorher erstmal um die Ökonomie und wie sie Armut braucht, benutzt und im Falle mangelnder Benutzung brach liegen lässt, mit allen Konsequenzen für diejenigen, die es betrifft, während Du das Kapital wegen seiner Armutsreduktion – sei diese mal wohlwollend unterstellt – ja eine positive Folgen für die Proleten ablauschen magst – das beißt sich erstmal. Jetzt wirst du vermutlich kommen mit: Der Staat muss dafür Sorgen, dass das Kapital alle Leute beschäftigt mit Anreizen – ich lass das mal kurz außen vor, kommt noch, aber ist Dir klar, dass dem die Konkurrenz der Kapitalisten selbst in deinem Ideal da in die Quere kommt?

TU: Wieso braucht der Kapitalismus Armut? Inwiefern kommt die Konkurrenz der Kapitalisten meinem Staatsideal in die Queere?

99ZUEINS: Der Staat setzt erstmal Armut, wenn er die Leute, die die Arbeit hier verrichten, durch das Privateigentum von den Produktionsmitteln trennt und den Ertrag in private Bereicherung stellt. So sind sie gezwungen, jeden Tag für den Lohn, dessen Höhe sie nicht in der Hand haben, weil er entlang des Geschäftsberechnet ist, arbeiten zu gehen mit den Konsequenzen, welche die Einkommensquelle als abhängige Variable unternehmerischer Kalkulation hat. Dass der Lohn daher nicht den Bedarf deckt (das wissen die Leute selbst schon) und erst recht nicht die Wechselfälle (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Unfall, Alter) bringt die ohnehin bestehende Armut in einen Verlauf, wie der dem Kapital dienlich ist.

TU: Eben nicht. Der Staat kann Armut verhindern. Wieso braucht der Kapitalismus Armut, wenn der Staat Geld- und Fiskalpolitik nach Keynes das verhindern kann?

99ZUEINS: Erstmal die beiden Dinge auseinander halten: Wenn der Staat eingreifen muss, um Kapitalisten zu Investitionen zu bewegen, weil die Produktionskosten für sie nicht rentabel sind, wird klar, dass Armut für Kapitalisten eine Produktivkraft darstellt, da sie niedrige Lohnstückkosten repräsentiert. Nochmal: allein dein (und Keynes) Zugeständnis, dass Kapitalisten nur produzieren wenn es sich für sie ganz privat lohnt, bestätigt schon im Umkehrschluss, dass Senkung von Stückkosten, also Schaffung von Armut für den Kapitalisten eine Produktivkraft sind.

Nun kommst du und sagst, dass der Staat dies korrigieren sollte (dieses „sollte“ sollte dir mal auffallen. Das ist der Idealismus über Staat und Kapital mit dem du hantierst). Nun merk mal was du durch dieses „sollte“ implizit machst: Damit schlägst du einen neuen, anderem, nicht-kapitalistischen Zweck vor: Kapitalismus zielt nämlich, wie grade beobachtet, auf profitable Investitionen ab, während der Staat auf Beschäftigung abzielen „sollte“. In deiner Vorstellung wirkt der Staat also gegen die von dir negativ bewerteten Eigenschaften des Kapitalismus.

Da kann einem ja sofort schonmal der erste Widerspruch auffallen: der Staat der per Recht und Gewalt den Kapitalismus überhaupt erst ins Leben ruft und alle seine Grundlagen stellt, von Eigentumsrechten bis hin zu Sozialstaatlicher Betreuung seiner menschlichen Abfallprodukte, genau dieser Staat soll jetzt einen GÄNZLICH ANDEREN Zweck verfolgen als den des Kapitals, den er ja selber in Leben ruft. Keynes hat an dieser Idiotie ganze b´Büchertürme verfasst: die Ideologie, dass der Staat für etwas ganz anderes da zu sein hätte, als die Zwecke die sich die Gesellschaft stellt, die er selbst in Kraft setzt.

Anders gefragt: warum sollte der Staat das überhaupt machen? Wozu erst eine ganze Wirtschaftsweise mit Eigentum und Geld ins Leben rufen, ja mit krassester Gewalt erzwingen, von der er sich sowieso was ganz anderes erhofft, als diese Wirtschaftsweise bezweckt? Wenn Wohlstand aller Gesellschaftsmitglieder der Zweck des Staates ist, Warum nicht einfach eine Ökonomie in Gang setzen die nichts mit Geld und Kapital am Hut hat, sondern einfach die Bedürfnisse der Menschen zum obersten Ziel erhebt und deren Verwirklichung versucht so gut es geht herzustellen? Aber dann stellt sich auch direkt die Frage, wozu es eigentlich dann noch Staat braucht: Herrschaft über Leute die die gleichen Zwecke wie die Herrschaft teilen ist nämlich ein Widerspruch.

Nun ist das alles viel schlimmer: der Staat ist nicht an Beschäftigung und Wohlstand für alle interessiert. Im Gegenteil, sein Hauptinteresse liegt in der Schaffung optimaler Bedingungen für nationales Wachstum, durch die Ausnutzung kapitalistischer Verhältnisse. Der will sich den Kapitalismus ZU NUTZE MACHEN für seine Herrschaft und seine Wachstumsambitionen. Damit ist sowohl die Idee des pluralistischen, zwecklosen Staates kritisiert als auch die vulgärmarxistische Idee, dass der Staat vom Kapital gesteuert wird. Nix da. Der Zweck ist in Grundgesetz fest kodifiziert und wird durch allerlei Gesetze durchgesetzt. Dem haben ALLE zu DIENEN, selbst die Kapitalisten, wobei deren Zwecke sich in der Regel schon mit dem nationalen Standpunkt decken (nicht immer, wie man jetzt zu Kriegszeiten offenkundig erlebt).

Und ja, es ist richtig, er KANN auch Geld ausgeben, um Investitionen zu fördern. Das ist überhaupt der einzig rationale Gehalt an Keynes’ Fantasiekonstrukten: ja klar, das Geld kann der besorgen, schaffen, leihen, etc. Aber der Fakt, dass er die Macht dazu hat, führt niemals zur romantischen Vorstellung, dass der Staat eigentlich Armut beseitigen oder Wohlstand schaffen „sollte“. Wenn nationales Wirtschaftswachstum erreicht wird, wenn die Hälfte der Bevölkerung verarmt ist, ist dies für den Staat grade Recht. Wenn er aber mal merkt, dass ein Umstand der für die Reproduktion der Kapitalverwertungsbedigungen nicht durch das Kapital selbst gedeckt wird, nimm zum Beispiel die Frage nach bezahlbarem Wohnraum, dann kann und wird er da auch mal eingreifen und selber was stellen. Da sieht er dann aus seinem Zweck heraus das nationale Wachstum zu organisieren und zu befördern, dass das so nicht geht, weil wenn seine Bürger keine Wohnung haben, sie sich nicht ordentlich und langfristig reproduzieren können und das wieder dem Wachstum des nationalen Gemeinwohls entgegenläuft. Bei diesen Erwägungen kommt die Sorge um das Einkommen und den Wohlstand der Menschen gar nicht vor.

Auch die romantische Vorstellung, dass der Staat nur ein politisches Werkzeug ohne echten Zweck ist, das derzeit von neoliberalen Kräften kontrolliert wird, aber leicht durch eine andere politische Kraft ersetzt werden könnte (z. B. eine Regierung unter Wagenknecht), verkennt sowohl den Staat als auch das Kapital. Das Kapitalverhältnis bedeutet die private Kontrolle über die Arbeit, genauer über NUR die Arbeit, die zur Vermehrung des Kapitals und zur Vermehrung von Zugriff auf den gesellschaftlichen Reichtum dient. Der Staat strebt dieses Verhältnis an: Er will, dass die Arbeiter sich dem Kapital für dessen Bereicherung unterwerfen, dass ihre Ziele dem Nutzen des Kapitals untergeordnet sind. Das ist überhaupt der Inhalt der staatlichen Verpflichtung auf das Eigentum. Er will, dass die Bedürfnisse der Menschen nur dann erfüllt werden, wenn es für das Kapital profitabel ist. Er tut dies, weil er erkennt, wie stark dies das Wirtschaftswachstum antreibt und was für eine produktive Machtbasis das ist, sowohl innerhalb seiner Nation als auch im internationalen Wettbewerb.

Aus dieser Bedingung für das Zurechtkommen der Menschen, die er selber per Gesetz stellt und mit Gewalt einfordert, die darauf abzielt, dass sich Arbeiter dem Kapital nützlich machen, folgt niemals eine Sorge um Vollbeschäftigung oder die grundsätzliche Reduktion von Armut.

Nehmen wir zuletzt mal das von die erwähnte Konzept der Vollbeschäftigung, das du offensichtlich positiv siehst: Was sagt Keynes wirklich, wenn er den Staat mit diesem Ziel beauftragt? Er sagt genau das: Menschen sollten in diesem kapitalistischen Abhängigkeitsverhältnis gehalten werden, sie sollten nur dann Zugang zu Nahrung und Wohnraum haben, wenn sie sich als förderlich für das Wachstum des Kapitals erweisen. Selbst aus diesem einfachen und fehlerhaften Gedanken ergibt sich niemals die Beseitigung von Armut und Not, es sei denn man koppelt das mit dem wahnsinnigen ideal, dass gerade dieses Verhältnis ja auch noch dem Arbeiter selbst zu dienen hätte.

Admin991
Author: Admin991

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