Laut Tagesschau vom 29. September 2023 haben in den letzten drei Wochen neunzig Tausend (in Zahlen 90.000) Menschen die bisher von rund 120.000 Armeniern besiedelten Region verlassen. Das sind 75 Prozent. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer monatelangen Blockade der einst sowjetischen autonomen Provinz „Нагорный Карабах“ durch aserische Streitkräfte, die selbst die Versorgung der Menschen (Armenier) mit Lebensmitteln und medizinischen Produkten betrifft. Ein abschließender Waffen-Gang der Aseris, assistiert durch die Türkei, mit einigen hundert Toten und unter Billigung der russischen „Friedenstruppen“ führte dann zu jenem Exodus, der aktuell stattfindet und den die Tagesschau als kleine Meldung kühl sachlich bilanziert.
Ganz im Unterschied zu ähnlichen Fällen – Stichwort Kosovo oder dem historischen Genozid an den Armeniern durch die Türkei – wird die aktuelle Vertreibung der Armenier weder von den Freunden der „regelbasierten Weltordnung“ noch von ihrem geopolitischen Gegenspieler Russland als das eingeordnet, was es de facto doch ist: Eine ethnische Säuberung reinsten Wassers mit einem guten Schuss Blut im Sinne des Völkerrechts!
Schon gleich sieht sich kein wesentlicher Akteur (d.h. Staat) oder gar die UNO veranlasst, der Vertreibung ein Ende zu setzen. Und die NATO, der bekanntlich nach eigener Auskunft das Schicksal der Kosovaren einen ganzen brutalen Krieg gegen Serbien wert war, stellt sich politisch zum Vorgang so teilnahmslos wie die deutschen Medien jede Anteilnahme verweigern.
Der Sache nach ist der Vorgang schlicht brutal. Zehntausende Menschen verlieren Eigentum, Existenz, Unterkunft und oft auch ihr Leben. Sie müssen ihre Häuser, Höfe, Äcker, Dörfer, Nachbarschaften und ihre soziale Beziehungen (Freunde, Verwandte, Ärzte etc) aufgeben. Und sie fliehen in eine Welt, die für eigentumslose, unbrauchbare Ausländer:innen bekanntlich nicht viel übrig hat. Auch auf eine Anerkennung als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention in der EU können sie – im Unterschied zu Ukrainern oder Kosovaren – unter den genannten Vorzeichen eher nicht hoffen.
Intellektuell wirft der Vorgang eine Frage auf: Wie erklärt sich die unterschiedliche Beurteilung ähnlicher Sachverhalte durch die erste und vierte Gewalt?
Erklärungsversuche:
- Seit dem Ende der UdSSR streiten die aus ihr hervor gegangen Nationalstaaten um die Erbmasse der „Heimat aller Werktätigen“, d.h. sie kämpfen im Sinne der regelbasierten Weltordnung um die Ressourcen ihrer Staatlichkeit.
- Land und Leute einer einst multiethischen und multireligiösen sowjetischen Gesellschaft werden zum Gegenstand der Konkurrenz nationalstaatlicher Ausschließlichkeit: Als Territorium und Staatsvolk nehmen die neuen Staaten die alte Bevölkerung und deren Lebensgrundlage in den Blick und bestreiten sich die Souveränität über eben diese.
- Es versteht sich von selbst, dass die Klärung solcher Fragen, also der ausschließen Verfügungsgewalt über Land und Leute, einschließlich der Loyalität der entsprechenden Bevölkerung zum neuen Souverän nicht friedlich zu haben ist.
- Und weil die die nötige Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Ansprüche für die kleinen Staaten der ehemaligen großen SU nicht ohne Rückendeckung der maßgeblichen Staaten zu haben ist, braucht jede ehemalige Sowjetrepublik einen potenten Paten… Da sucht man sich logischer Weise am besten jene Staatsgewalt aus, die durch ihre bewiesene Gewaltbereitschaft unbestritten ist.
- Im Falle der Kaukasus-Staaten erklärt dies die allgemeine Hinwendung der Region zu den USA und ihren Verbündeten in der EU.
- Im Falle des aktuellen Konflikts genießt hier Aserbaidschan die militärische Unterstützung der Türkei und die geopolitische Rückendeckung der Weltmacht (beide NATO). Diese hat am Kaspischen Öl Aserbaidschans größtes Interesse und die Vereinnamung der Region unter ihrer Aufsicht kommt wie gerufen. (Insofern dürfte bereits hier geklärt sein, warum die Weltmacht bei diesem Genozid einfach keinen Genozid erkennen kann.)
- Für Armenien folgt aus der Umstand der Bestreitung seiner Souveränität durch Aserbaidschan dank Unterstützung von NATO, USA und Türkei zunächst die Logik, sich Russland als Paten zu zu wenden. Immerhin hat diese, potenteste Teilrepublik der ehemaligen UdSSR ein eigenes Interesse daran, ihren Einfluss in der Region zu sichern und insofern auch Gründe, die subalternen Kräfte im kaukasischen Machtkampf gegen die USA bzw. ihre regionalen Verbündeten zu unterstützen. Darauf setzte traditionell die armenische Außenpolitik nach 1991und galt seitdem lange als engster Verbündeter der RF im Kaukasus…
- Weil nun aber die Durchsetzungsfähigkeit der eigenen Staatlichkeit einerseits von den vorhandenen Ressourcen für den Bedarf vom Weltmarkt abhängig ist (Aserbaidschan hat Öl und Gas, Armenien ist mehr oder weniger ein Agrarland) und andererseits von der Potenz des geopolitischen Paten, ist nachvollziehbar, warum sich unter der (nicht ganz frei von ausländischen Interventionen) etablieren Regierung Paschinjan die Überzeugung durchgesetzt hat, dass ein Seitenwechsel – weg von Russland hin zu den USA – als geeignete Strategie der Selbstbehauptung gegen den aserbaidschanischen Antagonisten erschien. Im Sinne dieser Kalkulation wurde eine Annäherung an die USA, die NATO und sogar gemeinsame Mititärmanöver durchgeführt.
- Vom Standpunkt der alten Schutzmacht Armeniens aus, also vom russischen Standpunkt aus, muss das als Verrat eingeordnet werden und wurde es auch. Der Schutz der armenischen Exklave Berg Karabach gegen eine vom Westen protegierte aserische Streitmacht liegt schlicht nicht im Interesse Russlands, wenn Armenien sich zugleich andient, das Aufmarschgebiet der USA im Kaukasus zu werden.
- Russland hat Armenien daher vor die Frage gestellt, ob es weiterhin die Exsklave Berg Karabach bzw. Нагорный Карабах durch russische Friedenstruppen gesichert wissen will oder sich lieber an die universelle Weltmacht und dessen antirussische Ambitionen anlehnt, um ihre prekäre Staatlichkeit zu behaupten.
- Bekanntlich hat die Regierung Paschinjan trotz erhebliche Proteste ihres patriotischen Völkchen sich nach den etablierten Gewaltverhältnissen gerichtet. Russland hat sich daher nicht weiter veranlasst gesehen, sich den Aserbaidschanischen Expansionsintressen in den Weg zu stellen. Aserbaidschan hat unter Rückendeckung der Nato die Gunst der Stunde genutzt.
Fazit: Das Rätsel ist gelöst. Die USA und ihre Entourage haben kein Interesse an der Problematisierung der Vertreibung, weil es die die Vormachtstellung ihres Verbündeten in der Region bedeutet und ihre Rolle als Vormacht erster Güte unterstreicht. Russland erteilt auf dem Wege des erneuten Genozids an den Armeniern der aktuellen Regierung eine Lektion, was man verliert, wenn man sich den falschen (US) Paten sucht. (Vielleicht hofft man in Moskau auch noch auf einen Umsturz, der in Jeriwan die traditionelle Freundschaft zwischen Armenien und Russland wiederbelebt.)
Konsequenz: Alle wesentlichen Akteure betrachten die aktuelle Vertreibung als notwendig für ihre geopolitischen Interessen. Und darum ist das Leid der Betroffenen auch nicht mehr als eben das, jedenfalls kein himmelschreiendes Unrecht, wie es von anderen Kriegsschauplätzen so ergreifend portraitiert wird. Nebenbemerkung zur tatsächlichen Konkurrenzlage der Mächte: Russland hat erneut ein Einflussgebiet verloren.