Bekanntlich hat die EU-Kommission am 16. November das „Pflanzenschutzmittel“ bzw. Breitbandherbizid der Bayer-AG für weitere zehn Jahre in der EU zugelassen. Die beabsichtigte Wirkung zielt auf die Ertragssteigerung durch Vernichtung aller Un- und Beikräuter im Acker- und Gartenbau. Im Unterschied zu den speziell für diese Anwendung gezüchteten Kulturen sind andere Pflanzen gegen die Phosphorsäuren des Präparats nicht resistent und werden vernichtet. Oder um es mal anders zu sagen: Dem Pflanzengift Glyphosat ist kein Kraut gewachsen.
Die Verwendung hat allerdings zwei Folgen:
Erstens werden durch Glyphosat all jene traditionellen Pflanzen auf den Ackerflächen, in den Sonderkulturen und im Gartenbau vernichtet, die für Insekten, insbesondere Bienen und viele kleine Wirbeltiere etc. die Nahrungsgrundlage darstellen. Die Folge ist der bereits jetzt eingetretene drastische Rückgang der Biodiversität. Besonders bedeutsam und folgenreich ist in diesem Zusammenhang das Bienensterben. Insgesamt ist bereits jetzt ein Rückgang der Biomasse an Insekten in Mitteleuropa um 70 Prozent innerhalb von 50 Jahren und in der Folge ein Rückgang jener Vogelarten zu verzeichnen, die zuvor den Befall von Kulturen durch Schädlinge auf natürliche Art in Grenzen hielten. Insofern zieht der Einsatz von Glyphosat auch die vermehrte Verwendung von Insektiziden nach sich. Die Konsequenzen fürs Artensterben werden damit vervielfacht. Systemimmanent trägt dies mittelfristig zu Verlusten der Agrarwirtschaft (längst in zweistelligen Milliardenbeträgen kalkuliert) durch Ernterückgänge und die steigenden Kosten für die Ausbringung der zunehmend unvermeidlichen Giftstoffe bei.
Zwischenbemerkung: Derlei Informationen über die Folgen des Glyphosateinsatzes für die natürliche Lebensgrundlage der Menschen im Allgemeinen und die finanziellen Erträge so genannter Bauern im besonderen sind auch modernen Landwirten wohl bekannt. Dennoch fordern deren Interessensverbände, das Gift auch künftig einsetzten zu dürfen. Ein Irrsinn? Ganz gewiss. Allerdings einer mit System: Die durch Glyphosat beabsichtige Ertragssteigerung ist ein Mittel ihrer Konkurrenz auf dem Agrarmarkt, von dem die Landwirte als privatwirtschaftliche Wettbewerber so abhängig sind, wie der Junkie von der Nadel. Rücksichtslosigkeit gegen die natürlichen Lebensgrundlagen sowie mittel- bis langfristig selbst gegen die eigenen finanziellen Interessen sind also weder Dummheit noch Gier geschuldet sondern sie sind ein Gesetz der Konkurrenz.
Zweitens wirkt sich Glyphosat karzinogen auf Endverbraucher und Einsatzkräfte sowie möglicher Weise über Boden und Grundwasser auch auf alle anderen Lebewesen aus. Die krebserzeugende Eigenschaft gilt in der EU inzwischen als „umstritten“. In den USA wurden früher alle Klagen diesbezüglich unter Verweis auf wissenschaftliche Studien (der Drittmittelforschung sei Dank!) zunächst abgewiesen. Zunächst… Bis nämlich das Patent zur Herstellung des einst US-amerikanischen „Pflanzenschutzmittels“ vom US-Konzern Montsanto vom deutschen Bayer–Konzern aufgekauft wurde. Seit dem fanden sich in den USA (der Drittmittelforschung sei Dank!) hinlänglich wissenschaftliche Belege, die für die Verurteilung von Bayer zu erheblichen Schadensersatzansprüchen herangezogen wurden. Und genau umgekehrt im deutschen Europa: Der Drittmittelforschung sei Dank!
In Anbetracht der tendenziell unterlegenen Wettbewerbsfähigkeit europäischer Agrarkapitale, also in Anbetracht von deren defizitärer Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt in Zeiten einer zunehmend wieder auf souveräne Versorgungssicherheit bzw. Autarkie besonnenen Agrarpolitik in Selbstbehauptung gegen USA, Russland und China haben die EU-Interessensträger die weltwirtschaftliche Selbstbehauptung ihrer staatlich beherrschten Gesellschaft bzw. letztlich schlicht die Selbstbehauptung ihrer Staaten über die Reproduktion ihrer natürlichen Lebensgrundlagen gestellt. Das dürfte immanent ebenso folgerichtig sein wie nachhaltig zerstörerisch.
Nebenbemerkung: Obgleich der Hauptnutzen aus der neuesten Entscheidung Bayer und damit der BRD zufällt, hat sich Deutschland bei der umstrittenen Abstimmung der Stimme enthalten. Es kann sich nämlich darauf verlassen, dass die subalternen Partner, deren Wirtschaft vielmehr auf den Primärsektor ausgerichtet ist, sich schon aus Eigeninteresse für eine Regelung ins Zeug werfen, die laut Koalitionsvertrag der deutschen Regierung unterbunden werden sollte. Aber wenn es die Partner nun mal so wollen…
Schlussfolgerung: Die Sache ist ernst. Es geht um die natürliche Reproduktion der Biosphäre als wortwörtliche Grundlage ihrer (agri)kulturellen Nutzung. Wahlen ändern nichts an der Zerstörung. Sie können nichts ändern, weil die Selbstbehauptung des staatlich verfassten Kapitalismus in Konkurrenz gegenüber genau so gearteten Nationen keine Rücksicht auf deren natürliche und soziale Reproduktion erlaubt. Erst Recht nicht in Kriegszeiten.
Alternative eins: Bioladen, Bienenhotels und ganz viel Beten. (Vorteile: Kostet fast nix. Ist erlaubt. Kann jeder. Und vor allem: Ändert nix.)
Alternative zwei: Eine Gesellschaft, die nicht im permanenten Widerspruch zu ihren Reproduktionsgrundlagen steht. (Vorteile: Auf Tugenden und Gebet kann künftig verzichtet werden.)
Nachtrag: Ein Bienen-Hotel für sich genommen ist natürlich nicht verkehrt. Wer’s mag, der soll es brummen lassen… Der Glaube, bzw. der Wunsch, damit irgendwie einer europäischen Agrarwirtschaft und ihrer politischen Herrschaft entgegen zu wirken, die mit Macht, Geld, Technik und Chemie die natürlichen Stoffwechsel unter ihre Kontrolle gebracht haben, ist allerdings freundlich formuliert – albern.
Kurz nach diesem ersten Paukenschlag der EU-Kommission in Brüssel folgt der zweite Schlag. Das EU-Parlament in Straßburg kippt nur sechs Tage später am 22. November ein geplantes Pestizidgesetz, dass zumindest eine gewisse Beschränkung für andere Ackergifte vorsah und die Halbierung ihres Einsatzes bis 2030 anstrebte.
„Es sei ein „schwarzer Tag“ für die Natur und für Landwirtinnen und Landwirte in Europa, sagte die im Parlament zuständige Berichterstatterin Sarah Wiener (Grüne) nach der Abstimmung. Die Mehrheit der Abgeordneten stelle die Profite großer Agrarunternehmen über Gesundheit und Umwelt.
Die Umweltorganisation BUND sprach von einem Verlust „für Mensch und Natur sowie die Ernährungssicherheit“. Nach der angekündigten Neuzulassung für den Unkrautvernichter Glyphosat in der vergangenen Woche sei die Entscheidung gegen das Pestizidgesetz „ein weiterer Rückschlag“, erklärte der BUND-Vorsitzende Olaf Bandt.“ (beide zitiert nach Tagesschau vom selben Tage)
Und? Es stimmt ja, liebe Frau Wiener. Diese Entscheidung untergräbt noch weiter die Gesundheit der Konsumenten, verschärft das Artensterben, gefährdet die Ernährungssicherheit und bedroht auch die natürliche Grundlage der landwirtschaftlichen Geschäfte.
Allerdings ist dies eben nicht so, weil die Mehrheit der Abgeordneten voluntaristisch den Profit der großen Agrarkapitale über Gesundheit und Umwelt stellt, wie Sie, Frau Wiener, sich das vorstellen oder zumindest ihren potentiellen Wählern mitteilen.
(Volks)Gesundheit, Ernährungssicherheit und Umwelt sind als materielle Voraussetzungen der kapitalistischen Verwertung zwar unerlässliche Bedingungen nachhaltiger Ausbeutung von Mensch und Natur im Interesse fortgesetzten kapitalistischen Wachstums. Umwelt- und Verbraucherschutz erfahren daher auch staatliche Anerkennung vom ideellen Gesamtkapitalisten auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene.
Aber sie sind eben nicht der Zweck der Argarwirtschaft, die aufgrund ihrer konkurrenzgetriebenen Interessen keine Rücksicht auf ihre eigenen Geschäftsgrundlagen und diejenigen der Nation nimmt und auch nicht nehmen kann. Und sie sind auch nicht der Zweck des staatlich dekretierten Allgemeinwohls, das nun mal in der Verwertung von Wert, also in einem Wachstum besteht, von dem alle Klassen und die staatliche Gewalt alternativlos abhängen.
Die Berücksichtigung ihrer natürlichen und menschlichen Basis stellt für den ideellen Gesamtkapitalisten zwar eine Notwendigkeit dar, um das System der Ausbeutung nachhaltig zu gestalten, es ist aber zugleich ein systemwidriger Kostenfaktor, der sich an der Konkurrenzfähigkeit seiner Kapitale und der Behauptung gegen das Ausland stets relativieren muss.
Soll also beides in Zeiten der Konfrontation, der Krise und kommender Kriege gleichzeitig erfolgen, nämlich die Bewahrung und Bewährung des europäischen Nährstandes als privatwirtschaftliche Kalkulation auf dem Weltmarkt, dann muss der Staat bzw. die EU auch soviel Zerstörung, Vergiftung und Erkrankung zulassen, wie eben erforderlich ist, um eine weltweit konkurrenzfähige Landwirtschaft zu ermöglichen. Kein Voluntarismus der Abgeordneten also, sondern Notwendigkeit des EU-Projekts im Kriegsmodus, liebe Frau Wiener! Und gegen dieses Projekt wollen Sie doch wohl nicht opponieren, oder? Jedenfalls wären sie dafür nicht nur in der falschen Partei, sondern Sie säßen dafür im falschen Parlament, nämlich in einem, dass sich genau diesem Projekt verschrieben hat.
Oder um es einmal anders zu sagen: Der Krieg um die Weltordnung ist eben auch ein verschärfter Krieg gegen die Natur und die Lohnabhängigen als Produzenten und Konsumenten der kapitalistischen Warenwelt. Übrigens: Sowohl im Falle von Glyphosat als auch beim Pestizidgesetz steht es den nationalen Regierungen frei, schärfere, also gesundheits- und umweltfreundlichere Regelungen zu erlassen. Sie tun es allerdings nicht. Aus Gründen. Auch nicht unter Führung eines grünen Agrarministers Cem Özdemir in Deutschland. Aus Gründen, die sie auch stets gefragt oder ungefragt zu Protokollgeben und in denen die Worte „Wettbewerbsfähigkeit“, „Partner“, „Abwägung“, „nun mal“, „Kompromisse“ nicht fehlen dürfen. Fällt ihnen etwas auf, liebe Frau Wiener?
Fazit:
Die Entscheidungen aus Brüssel und Straßburg machen einige lieb gewonnene Illusionen kurzerhand zunichte. Keineswegs haben hier liebe Staaten und liebe Politiker „noch nicht angemessen“ auf eine ohne ihr Zutun bedrohliche Lage „reagiert“. Es handelt sich auch nicht um einen Fall von Staats- oder Politikversagen oder einen Mangel an Demokratie in der EU. Und erst recht handelt es sich nicht um eine Dummheit, die Unwissen und blinder Profitgier geschuldet ist – wie Fernsehköchin Sarah Wiener glaubt oder zumindest glauben macht.
Im Gegenteil:
Erstens haben die EU-Kommissare und –Parlamentarier nichts unterlassen. Sie haben vielmehr in aller Machtvollkommenheit etwas beschlossen und gemacht; nämlich Gesetze und Verordnungen, unter denen nun 500 Millionen Menschen und ihre Umwelt leben und sterben müssen.
Zweitens erfolgen die beiden Paukenschläge der EU keineswegs aus Unwissenheit. Wissenschaft, Umweltverbände und Aktivisten haben mit Studien, Petitionen und Demonstrationen über die verheerenden Konsequenzen hinlänglich aufgeklärt. Den Parlamentariern liegen diese Fakten vor, sie sind darüber informiert.
Drittens braucht es für ein solches Programm auch nicht unbedingt die Diktate der Brüsseler Kommission sondern kann die gleiche Härte gegen Mensch und Natur auch nach allen Regeln der Demokratie parlamentarisch in Straßburg verabschiedet werden.
Viertens ist die Bundesregierung in Berlin nicht machtlos den EU-Beschlüssen ausgeliefert. Sie könnte mit ihrer Mehrheit im Bundestag jederzeit strengere Vorschriften für die deutsche Landwirtschaft durchsetzen. Sie will es aber offenkundig nicht. Aus den gleichen Gründen übrigens, die auch in Brüssel und Straßburg maßgeblich waren. Die Bundesregierung unter Führung eines grünen Landwirtschaftsministers will, und muss wollen, was alle Regierungen wollen; nämlich die Konkurrenz um Verwertung auf den Agrarmärkten schlichtweg zu ihren Gunsten gewinnen – koste es, was es wolle!
Fünftens ist die fortgesetzte Vergiftung, die zum Teil irreversible Zerstörung von Mensch und Natur keineswegs „nur“ privater Profitgier geschuldet. Die entsprechenden Gesetze werden vielmehr mit aller Macht der EU und ihrer Mitgliedstaaten verbindlich durchgesetzt. Die Beschlüsse entsprechen dem Willen der Politik in Brüssel und Berlin. Sonst gäbe es sie nicht.