Vorbemerkung
Es gibt Momente der bürgerlichen Gesellschaft, in denen z.B. der Staat nach innen vom normalen Gebrauch seiner Gewalt abweicht oder in denen zwischenstaatliche Verhältnisse nicht mit dem “Normalfall staatlicher Souveränität” zusammenfallen. Desgleichen werden periodisch Verhältnisse in der Arbeitswelt öffentlich, in denen die Ausbeutung von Lohnarbeitern weit über das normale Maß hinausgeht und daher zurecht “Überausbeutung” genannt wird (Erntehelfer, Fleischindustrie, Kinderarbeit usw..).
Manche Kritiker des Kapitalismus stellen diese Hinweise unter den Verdacht, dass man damit entweder durch die Kritik der Abweichung die Kritik des gewöhnlichen Kapitalismus relativieren oder aber den Blick auf seine normale Funktion und deren Kritik verschleiern würde.
Darin steckt immer die Zurückweisung des theoretischen Interesses an diesen Abweichungen vom kapitalistischen Normalbetrieb und diese Zurückweisung halten wir für falsch. Immerhin gibt es diese Abweichungen im Gebrauch staatlicher Gewalt oder vom “normalen” Lohnniveau und den “normalen” Arbeitsbedingungen. Damit gehören diese Abweichungen genauso notwendig zum Kapitalismus, wie seine “Normalität” und man käme bei der Erklärung dieser Besonderheiten auch bei den grundsätzlichen Bestimmungen staatlicher Gewalt oder der Bildung durchschnittlicher ökonomischer Größen (Durchschnittslohn, Durchschnittsprofit usw..) im Kapitalismus an.
Dass solchen Kritikern die Abweichungen von der nationalstaatlich-kapitalistischen Normalität suspekt erscheinen, lässt daher eher auf ein ungenügendes Verständnis dieser Verhältnisse, als auf ein legitimatorisches Bedürfnis derer schließen, die sich diese Besonderheiten zum Gegenstand machen. Sicher gibt es beides. Der Fehler, der hier hauptsächlich kritisiert werden soll, ist jeder Thematisierung dieser Abweichungen Häresie in Sachen Kapitalismuskritik zu unterstellen.
Allgemeines zum Fehler dieser Zurückweisung
Welches sind die abstrakten Fehler, die solche Kritiker machen?
In der Bezeichnung, dass etwas „Abweichung“ sei, ist eine Sache auf ein Maß (z.B. ihre Normalität, ihre übliche Erscheinung) bezogen, von der sie sich als eben das: als Abweichung unterscheidet. Darin ist die Abweichung sowohl der Sache als ihre Realisierung zugeordnet, als auch von ihrer normalen, üblichen Verwirklichung – eben als abweichend – unterschieden.
(Beispiel: Inselverzwergung, Inselgigantismus)
Die hier kritisierten Kritiker des Kapitalismus, die die vorher erwähnten Beispiele (abweichender Gebrauch staatlicher Gewalt, Überausbeutung) als theoretische Gegenstände mit der Begründung zurückweisen, dass man damit die kapitalistische Normalität nicht erklären und kritisieren würde, leisten sich damit den Widerspruch selbst diese Gesellschaft nicht richtig erklären zu können, da sie dazu auffordern von ihren Besonderheiten zu abstrahieren und sie der Nichtbefassung zu überantworten.
Die Klärung, warum sich z.B. Staatsgewalt oder Verwertung abweichend realisieren, ist also ein Moment der Erklärung des Kapitalismus.
Dennoch treffen solche Kritiker implizit wenigstens eine Aussage über abweichende Verhältnisse in Sachen Ausbeutung und Staatsgewalt, nämlich die, dass an diesen Besonderheiten das Allgemeine, Normale nicht aufzufinden sei. Ihnen bleibt dann, da sie die Gegenstände der theoretischen Befassung nicht für Wert befinden, bei theoretischen Äußerungen über sie nur die Subsumtion unter das, was sie für den nationalstaatlich-kapitalistischen Normalfall halten.
Man erkennt in der Abweichung dann nur noch die Normalität und missversteht sie damit grundsätzlich, wie im Folgenden an mehreren Beispielen ausgeführt wird. Es sind nämlich sowohl die Normalität, als auch die Abweichung Realisierungen der selben Sache und beide gehören damit zur Erklärung.
Sachlich ergibt sich aus der Feststellung der abweichenden Realisierung einer Sache immer ein neuer Erklärungsgegenstand, nämlich der der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Abweichung und Normalität der jeweiligen Sache.
In einigen Beispielen wie z.B. beim “Normalfall staatlicher Souveränität”, dessen Wirken der Gegenstandpunkt im Gaza-Krieg ausgemacht haben will, wird überhaupt nicht mehr bestimmt, was denn dann der damit unterstellte besondere, abweichende Fall staatlicher Souveränität sein soll. Das wird einerseits in diesem Video nachgeholt. Andererseits fällt daran auf, dass so, wie der Gegenstandpunkt diesen “Normalfall staatlicher Souveränität” bestimmt, keinerlei Erklärungswert und auch keine Erklärungsabsicht in dieser Fallunterscheidung enthalten ist. Die Fallunterscheidung nimmt man ja gerade vor, um die “Fälle”, die einer Sache zukommen,zu unterscheiden.
Damit stellt sich die Frage, was mit damit bezweckt wird, dass von den Besonderheiten oder Abweichungen abstrahiert wird, oder wie gerade eben am “Normalfall staatlicher Souveränität” erläutert: mit dem Verweis auf die Normalität einer Sache ohne den abweichenden Fall auch nur zu erwähnen oder in Betracht zu ziehen?
Die Antwort ist eine doppelte:
1) Die Kenntnisnahme der Normalität soll die Befassung mit den Abweichungen obsolet machen, die den Blick auf das Wesentliche (z.B. einer Kritik) vermeintlich nur verstellen würden. (man hat ja die Kritik, wozu dann noch die Besonderheiten – das verwirrt nur, lenkt ab usw..)
2) Die Wirklichkeit wird im Widerspruch zur Bezeichnung “Fall” mit dem Normalfall identifiziert, den man z.B. in Israel kritisiert haben will, womit das Vorgehen der IDF gegen die Bevölkerung in Gaza irgendwie in allen Staaten dieser Welt steckt.
Darin wird das Postulat des Normalfalles bzw. die Reduktion des Gegenstandes auf den Normalfall nicht nur falsch (siehe oben), sondern eine Botschaft, die mit dem jeweils betrachteten Gegenstand überhaupt nichts zu tun hat bzw. der er bloßes Material ist. Um die geht es den Verfassern solcher Aussagen und im Dienst dieser Botschaft, die sie loswerden wollen entstellen sie den Erklärungsgegenstand bzw. abstrahieren vollständig von ihm (wie im Beispiel 1).
Liebhaber der bürgerlichen Gesellschaft – also ganz normale Nationalisten, die die nationalstaatlich verfasste bürgerliche Gesellschaft für das Mittel ihrer Interessen halten – nehmen gelegentlich dieselben Abweichungen zur Kenntnis. Das Verhältnis, in dem sie praktisch zur bürgerlichen Gesellschaft stehen, ist dabei ihre Vorstellung von einer gegebenen „Normalität“, an der sie den Umgang von Staaten untereinander, die Beschäftigungsverhältnisse usw.. messen und so ggf. „Abweichungen“ feststellen. Dabei konstatieren sie in dem Fall, dass die Abweichung sich zu ihren Interessen negativ verhält, gesellschaftliches Versagen oder aber sie erkennen im Fall eines positiven Verhältnisses einen Hinweis darauf, was die „richtige“ Politik doch alles zu leisten imstande sei. (Ludwig Erhard)
Beispiel 1: Änderung der Rechtsauslegung, Anpassung des Rechts
In den Kommentaren unter unserer Sendung „Staat gegen Studentenproteste“, die den Umgang mit Palästina-Protesten an deutschen Universitäten thematisiert ist z.B. folgende Äußerung zu lesen:
„Steigerungen von radikal zu noch radikaler, oder von repessiv zu noch repressiver verschleiern eher, was Repression ist und dichten dem gewaltmonopolistischen Rechtsstaat sowas wie Höhen und Tiefen im zeitlichen Ablauf an, wo er doch tagein tagaus einfach seinen sich wandelnden Erfordernissen mit gleichbleibender Entschlossenheit und Recht setzender Gewalt nachkommt. Mal mit Drohung, mal mit Anwendung.“
Der Kommentator weist den im Video thematisierten Gegenstand des abweichenden staatlichen Umgangs mit den Palästina-Protesten mit dem Hinweis zurück, dass der Staat seinen Erfordernissen mit Recht setzender Gewalt nachkäme.
Damit fordert er zu einem Gegenstandwechsel auf, da das Gespräch gerade thematisiert wie er das tut:
Nämlich durch eine veränderte Rechtsauslegung und durch Kriminalisierung der Proteste. Wie im Video erwähnt wird gerade abweichend vom normalen Umgang mit anderen studentischen Protesten das Ordnungsrecht anders durchgesetzt; werden Zwangsexmatrikulationen angedroht; auf die Universitäten wird Druck ausgeübt das Hausrecht durchzusetzen; Besetzungen als Hausfriedensbruch- oder das Aufhängen von Plakaten als Vandalismus zur Anzeige zu bringen; Protestslogans werden kriminalisiert etc.
Zu erklären wäre also selbst in kritischer Auseinandersetzung mit dem Video diese Abweichung von der normalen Rechtspraxis und man käme dabei auf den Gegenstand „deutsche Staatsräson bzgl. Israel“. Die stört sich an den Palästina-Protesten und geht deshalb mit ihnen anders um, als z.B. mit Protesten gegen Studiengebühren. Das Gut, das die Palästina-Proteste verletzen ist ein Titel, unter dem Deutschland imperialistische Ansprüche gegenüber der Welt geltend macht: Deutschland präsentiert sich auf der Ebene der imperialistischen Moral als glaubwürdig geläuterter Nachfolger des Dritten Reiches und seiner Judenvernichtung und sieht sich gerade deshalb berufen imperialistische Ansprüche an andere Staaten zu stellen und auf die Einhaltung seiner Interpretation des Völkerrechts zu dringen. Diese Läuterung demonstriert es in seinem besonderen Verhältnis zu Israel, indem es dessen „Sicherheit“ ideell in die eigene Staatsräson aufnimmt. Die Proteste stören also die Selbstlegitimation des deutschen Imperialismus.
Das ist einer der wesentlichen Gegenstände, die man bei einer Auseinandersetzung mit dem Video hat und was sich dann an Folgegegenständen ergibt wäre als Ergebnis dieser Auseinandersetzung abzuwarten.
Anders der Verfasser des Kommentars: Der will den Staat als Recht setzende Gewalt besprechen, weil die oben angedeutete Erklärung „eher verschleiern würde, was Repression ist“. Dass diese Frage im Video überhaupt nicht gestellt worden ist, interessiert ihn nicht weiter. In völlig selbstbezogener Wahrnehmung seiner Agenda nimmt er am Video lediglich zur Kenntnis, dass verstärkte Repression beklagt wird und formuliert den Gegenstandswechsel hin zu seiner Agenda als Kritik am Video.
Diese häufig anzutreffende Polit-Moral interessiert sich also nur am Rande für den Inhalt abweichender Positionen. Sie werden von vornherein als Verhältnis zu eigenen Kritiken an bürgerlicher Gesellschaft und Kapitalismus wahrgenommen, die man sich einleuchten lassen soll und auftretende Differenzen werden abweichenden Fragestellungen als „Fehler“ attestiert. Schon die bloße Wahrnehmung des Umstandes, dass Positionen nicht der eigenen politischen Richtung entstammt, löst bei solchen Zeitgenossen die „Suche nach Fehlern“ aus, ohne auch nur im entferntesten feststellen zu wollen, was Inhalt der abweichenden Positionen ist und welche Gegenstände verhandelt werden.
Beispiel 2: Prekariat, Extraprofit und hohe Zinsen.
Die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten im Kapitalismus setzen sich auf der Grundlage der Konkurrenz der Privateigentümer um Einkommen durch. Diese Konkurrenz wird vom Staat entlang seines Interesses, den Bestand und die Prosperität der nationalen Konkurrenzgesellschaft auch zukünftig sicherzustellen, beschränkt. Notwendig ist diese Beschränkung, weil die Privateigentümer ihre Interessen ohne Rücksicht auf ihren Zusammenhang oder die Grundlagen ihrer Konkurrenz betreiben.
Daher gehört zu jeder sich ergebenden Realisierung dieser Gesetzmäßigkeiten – zum Durchschnittsprofit, zum Zinsfuß, zum Lohnniveau, d.h. zu ihrer jeweiligen Normalität die Abweichung notwendig dazu! Die Abweichung ist dabei die Art, wie sich eine Normalität (ein durchschnittliches Lohnniveau, ein durchschnittlicher Profit oder ein handelsüblicher Zinssatz) durch die Konkurrenz ergibt:
Gerade indem, die Privateigentümer darum konkurrieren möglichst viel Einkommen für sich zu generieren, also ein jeder die Normalität übertreffen will, stellen sie das „Normale“ der oben genannten ökonomischen Größen her:
Zur „normalen“ Ausbeutung d.h. zum unentgeltlichen Wirken der Arbeitskräfte im Produktionsprozess für den Profit des Kapitals gehört daher die Überausbeutung d.h. eine über das normale Maß der Ausbeutung hinausgehende Ausnutzung der Arbeitskräfte, die jedes Kapital für sich verwirklichen will. Die Überausbeutung ist daher der Zweck des Kapitals im Umgang mit Arbeitskräften. Es soll für den verausgabten Lohn möglichst viel gearbeitet werden, damit sich der vorgeschossene Lohn für den Unternehmer auch rechnet. Indem also ein jeder Unternehmer gegenüber seinen Beschäftigten auf Überausbeutung insistiert und die Beschäftigten sich ggf. gegen dieses Interesse organisieren und es zu beschränken versuchen und zusätzlich der Staat diese Konkurrenz zwischen Lohnarbeit und Kapital um Lohnhöhe und Arbeitsbedingungen in seinem Interesse des Gelingens der nationalen Konkurrenzgesellschaft als Ganzes verrechtet und beschränkt, wird das „Lohnniveau“ d.h. das „Normal des Lohnes“ hergestellt.
Der Lohn ist nur ein Teil des Vorschusses, den ein Kapital für Arbeitskräfte tätigen muss, um sich zu verwerten. Der andere Teil dieses Vorschusses setzt sich aus sachlichen Produktionselementen, wie Maschinen, Anlagen und Rohstoffen zusammen. Der Erfolg des individuellen Kapitals bemisst sich dabei an einem möglichst großen Überschuss über die vorgeschossene Geldsumme, weshalb es beim Vorschuss für die Verwertung darum geht die sachlichen Produktionsvoraussetzungen möglichst preiswert einzukaufen und im Gegensatz mit den Käufern des Produkts möglichst hohe Preise durchsetzen zu können. Nicht ein durchschnittlicher Profit ist also der Zweck des Unternehmers, sondern ein möglichst weit über den Durchschnitt hinausgehender Extraprofit. Auch hier ist die Abweichung, das Übertreffen des Durchschnitts, das Interesse, mit dem sich (vermittelt über den Kredit) ein Durchschnittsprofit herstellt. Der Kredit ist dabei das Mittel solcher Kapitale einen Extraprofit zu erzielen, da er sie von ihrer individuellen Größenbeschränkung befreit. Fremdem Kapital wird ein Teil des Vorschusses in Form eines Zinses gezahlt, den der zukünftige Profit zu rechtfertigen hat. Damit ist einerseits ein neuer Gegensatz in der Welt, nämlich der der Konkurrenz um die Teilung des Profits in Zins und Unternehmergewinn und andererseits ist das individuelle, produktive Kapital so in der Lage eine entsprechend große Profitmasse zu realisieren, sowie eine für den Extraprofit optimale Stufenleiter der Produktion hinsichtlich Produktivität etc. herzustellen.
Auf diese Konkurrenz der produktiven Kapitale (der Kapitale, die etwas herstellen) wendet sich das Anlage suchende Geldkapital mit dem Zweck, einen möglichst hohen Zins für die befristete Aufgabe der Verfügung über eine Summe verliehenen Geldes zu erzielen. Das sorgt für eine Konkurrenz der nach Anlage suchenden Geldkapitale, die in Konkurrenz mit den produktiven Kapitalen (die etwas herstellen) dann einen einheitlichen Zinsfuß herstellen und so für eine durchschnittliche Teilung des Profits in Zins und Unternehmergewinn sorgen.
Die Abweichungen – die Überausbeutung, der Extraprofit, der sehr hohe Zins – sind daher ständige, bezweckte und tatsächlich vorkommende Begleiterscheinungen der Konkurrenz um Einkommen, vermittels derer Durchschnittsprofit, Lohnniveau und einheitlicher Zinsfuß hergestellt werden.
Dieser Umstand ist bei Befürwortern wie gelegentlich auch bei Kritikern des Kapitalismus die Quelle von falscher Kritik:
Befürworter nehmen die Abweichungen davon – wie z.B. die Beschäftigung osteuropäischer Arbeitskräfte in der Fleischindustrie, die 10 Stunden und mehr täglich Schlachtvieh zerlegen und dabei nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn verdienen oder die Beschäftigung von Saisonarbeitskräften in der Landwirtschaft, die für die Dauer ihres Vertrages unter ärmlichsten Bedingungen hausen und ohne jegliche soziale Absicherung arbeiten – als Indiz für Ausbeutung. Dabei wird die in jedem Arbeitsverhältnis stattfindende Ausbeutung nicht erkannt, als Normalität genommen und die Überausbeutung dieser prekären Arbeitskräfte wird mit Ausbeutung identifiziert.
Den Zins und den Unternehmergewinn nehmen solche Zeitgenossen gleichfalls als gegebene Notwendigkeiten hin, um an Abweichungen von dieser Normalität entweder die menschliche Gier zu erkennen, die in verantwortungsloser Selbstbezogenheit gegen die dem Kapital unterstellte Funktion der Versorgung der Menschheit mit Arbeitsplätzen und nützlichen Gegenständen verstößt oder aber es wird im Extraprofit der gerechte Lohn und Anreiz für die Initiative des Unternehmers entdeckt.
Kritiker stellen oft den Verweis auf Überausbeutung, Extraprofit und gelegentlich exorbitant hohe Zinsen unter den Verdacht, dass man gegen Ausbeutung, Unternehmergewinn und Zins wohl nichts einzuwenden habe. Damit geben sie zunächst zu Protokoll nicht verstanden zu haben, wie ein durchschnittliches Lohnniveau, der Durchschnittsprofit und der Zinsfuß zustande kommen.
Ihre Zurückweisung des kritischen Hinweises auf die Abweichung ist daher das Einklagen der Kritik des Allgemeinen und Normalen, das sie im Verweis auf die Abweichung nicht erkennen können. So wäre z.B. anlässlich des Hinweises auf die prekäre Situation der osteuropäischen Arbeiter in der Fleischindustrie oder der Saisonarbeiter in der Landwirtschaft auf das Interesse der Unternehmen an der Billigkeit der Arbeitskräfte zu verweisen, dem auch Beschäftigung unterhalb eines zur Reproduktion ausreichenden Lohnes entspricht, anstatt ihre Erwähnung als Ignoranz der kapitalistischen Normalität zu geißeln.
Solche Kritiker bestätigen zudem den Befürwortern des marktwirtschaftlichen Produzierens, dass es sich bei diesen prekären Beschäftigungsverhältnissen um Ausnahmen von einer kapitalistischen Regelhaftigkeit handeln würde, deren Wirken mit diesen prekären Existenzen nichts oder nur am Rande etwas zu tun hätte.
Das Gegenteil ist richtig! Der ökonomische Erfolg im Kapitalismus liegt im Streben nach Extraprofit
d.h.:
– einem möglichst billigen Einkauf von Lohnarbeitern und sachlichen Produktionsvoraussetzungen,
– in der möglichst umfänglichen und rücksichtslosen Ausnutzung der Arbeitskräfte im Produktionsprozess,
– sowie im möglichst teuren Verkauf des Produkts.
Das Pauschal gegen die kritische Erwähnung des Prekariats vorgebrachte Argument, dass man damit die kapitalistische Normalität rechtfertigen würde ist ein Einwand, der das eigene, unzureichende Wissen über den Kapitalismus durch Denkverbote ergänzt und sich so der Notwendigkeit des Begreifens des Zusammenhangs des Elends polnischer Erntehelfer oder rumänischer Fleischarbeiter mit der kapitalistischen Normalität entledigt. Diese Kritiker gebrauchen daher Resultate des marxsschen Kapitals als Moral. Sie machen seine Aussagen, weil sie sie nicht verstanden haben, zu Geboten, die man bei der kritischen Wendung auf den Kapitalismus zu beherzigen habe.
Beispiel 3: Der „Normalfall“ staatlicher Souveränität
[Bitte Zitat im GS nachzulesen, da angepasst]
„[. .] die Autoren der Zuschrift [legen] erst einmal Einspruch [..] gegen unser und das vom Referenten vertretene Urteil [ein], dass der Gaza-Krieg in all seiner Brutalität der Normalfall staatlicher Souveränität ist”
Die agitatorische Funktion dieser Formulierung, dass der „Gaza-Krieg in all seiner Brutalität der Normalfall staatlicher Souveränität“ sei, ist unmittelbar einsichtig: Wenn es sich bei diesem Krieg um etwas handelt, das unter Staaten „normal“ sein soll, dann ist das, was dort stattfindet ein Einwand gegen alle Staaten.
Das haben wir dem GS bestritten und haben darauf bestanden, dass das Ausmaß von Zerstörung und Brutalität sehr wohl etwas mit den Besonderheiten der israelischen Staatsgründung zu tun hat, also auf eine Abweichung von einem wie auch immer gearteten Normalfall staatlicher Souveränität zurückzuführen ist:
Terror ist die Art, wie dem zionistischen Staat sein Anspruch auf wenigstens ganz Palästina als sein Staatsterritorium erscheint, wenn die Gazawis oder die Bewohner der Westbank Widerstand leisten (jeder Widerstand übrigens, auch BDS):
Er schließt die in den besetzten Gebieten ansässige Bevölkerung von seinem Staatsvolk aus, blockiert sie und diktiert ihr unwerte Lebensbedingungen.
Er herrscht ihr eine Besatzung auf, weil und solange ihre Vertreibung für ihn politisch nicht durchsetzbar ist und sie organisiert eine Gegengewalt gegen ihn.
Diese Gegengewalt, bestätigt und reproduziert dann wieder Israels Urteil der Unverträglichkeit mit diesem aus seiner Sicht falschen Volk, dann aber auf der Ebene direkter gewaltsamer Konfrontation d.h. aus israelischer Perspektive als Notwendigkeit der Terrorbekämpfung.
Der vom GS ausgemachte Terrorvernichtungskrieg ist also die direkte Folge der besonderen israelischen Staatsräson und die israelische Staatsgewalt wird bei der Herstellung ihrer Souveränität genau entlang dieser besonderen Staatsräson aktiv, wie man der Kampagne der IDF selbst, sowie den Äußerungen der israelischen Regierung entnehmen kann.
Zu einer Gemeinsamkeit mit (fast) allen anderen Staaten, zum “Normalfall staatlicher Souveränität” kann man es angesichts dieser Sachlage nur durch Abstraktion von der besonderen israelischen Staatsräson bringen. Das hat dann allerdings den Nachteil, dass man dann auch von den Besonderheiten dieses Krieges abstrahiert und ihn unter die Feststellung subsumiert, dass es sich dabei vor allem um die Durchsetzung staatlicher Gewalt d.h. um die Wiederherstellung einer Souveränität handeln würde..
“ [..] die ihre Infragestellung durch Gegengewalt mit dem härtesten verfügbaren Gegenbeweis der Überlegenheit ihrer Gewalt beantwortet; einem Souveränitätsbeweis, der von besonderen politischen Zwecken nicht nur ideologisch nichts wissen will, sondern praktisch alles auf sich bezieht.”
Dass der GS von den Besonderheiten dieses Konflikts nichts wissen will, unterstellt er dabei der israelischen Staatsgewalt. Die soll angesichts dieses Ausfalls der Hamas, angesichts der Blamage ihrer Souveränität bezüglich ihrer Staatsräson von Amnesie befallen worden sein. Warum das so sein soll, darüber schweigt er sich nicht nur beharrlich aus, sondern ignoriert auch alle Äußerungen der israelischen Regierung, die seinem Befund widersprechen und scheitert damit an der Erklärung des Konflikts.
Mal ganz gesprochen stellt sich neben der gerade wiedergegebenen Kontroverse eigentlich die Frage, was der „Normalfall staatlicher Souveränität“- und was die damit unterstellten abweichenden Fälle staatlicher Souveränität sein sollen?
Für den GS sind die mit der Formulierung Normalfall unterstellten abweichenden Fälle von Souveränität kein Thema.
Er benutzt die Fiktion einer Fallunterscheidung bezüglich staatlicher Souveränität lediglich, um seine Botschaft zu transportieren, dass Staaten letztendlich nicht mehr als Gewalten und als solche prinzipiell nichts anderes als das seien, was Israel in Gaza vollbringt.
Mit dieser Gleichsetzung, soll man sich einleuchten lassen, dass die Gewalt die sich in Gaza realisiert, nichts grundsätzlich anderes wäre, als die hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse, was natürlich in Anbetracht der Brutalität der Gewaltexzesse in Gaza ein wuchtiges Urteil gegen die hiesigen Verhältnisse wäre.
Dem Beweiszweck entsprechend fehlt dann auch jede tatsächliche Bestimmung des “Normalfalls staatlicher Souveränität” und der in der Formulierung damit unterstellten Abweichungen.
Wir haben uns dennoch darüber einmal Gedanken gemacht und sind zu folgendem Ergebnis gekommen:
Der Normalfall staatlicher Souveränität nach außen ist ein Einsatz staatlicher Gewalt, dem letztinstanzlich ein wechselseitiges Benutzungsinteresse zugrunde liegt – nämlich das, fremde Nationen dem Zugriff der nationalen Geschäftswelt zu erschließen und damit die Schranke, die andere nationale Souveräne diesem Benutzungsinteresse sind zu überwinden und einen Zugang zu auswärtigen Märkten zu bewerkstelligen.
Dieses Benutzungsinteresse ergänzt den negativen, ausschließenden Bezug der Souveräne aufeinander um eine positive Seite, sodass wechselseitige Anerkennung und die Öffnung der Grenzen unter dem Vorbehalt des Nutzens für die nationalen Gesellschaften den diesbezüglichen „Normalfall staatlicher Souveränität“ darstellen.
Auf der Grundlage dieser wechselseitigen Anerkennung, führen solche nationalen Souveräne dann auch Kriege gegeneinander, bei denen es darum geht fremde Souveräne unterzuordnen, um auf dieser Grundlage die wechselseitige Benutzung fortzusetzen.
Es geht dabei grundsätzlich nicht um Auslöschung auswärtiger Souveräne oder um die Annexion von Territorium, sondern eben um ihre Gefügigmachung.
Das eben Gesagte ist der „Normalfall staatlicher Souveränität“, dem man die ‚abweichenden Fälle staatlicher Souveränität‘ formal leicht entnehmen kann:
Das sind all die Fälle, in denen das Verhältnis von zwischenstaatlicher Gewalt und Benutzungsinteressen sich anders darstellt.
Diese ‚abweichenden Fälle staatlicher Souveränität‘ haben gleichzeitig, wie in der Bezeichnung ‚Abweichung‘ festgehalten wird, ein Verhältnis zum eben erklärten Normalfall, ergeben sich also aus diesem Normalfall oder sind ihm vorausgesetzt bzw. stellen ihn her.
Gemeinsam ist diesen Abweichungen, dass es sich um Zustände staatlicher Souveränität handelt, in denen das Benutzungsinteresse auswärtiger Souveräne keine Rolle spielt, sondern das zwischenstaatliche Verhältnis dauerhaft ein reines Gewaltverhältnis ist.
Solche Ausnahmen sind z.B. die Sowjetunion, das faschistische Deutschland oder eben Israel im Verhältnis zu seinen arabischen Nachbarn oder dem Iran.
- Die Sowjetunion hatte wegen ihrer Abschottung gegen den Weltmarkt kein Benutzungsinteresse bzgl. des Weltmarkts und ihr Verhältnis zu den USA ist damit als noch nicht – nämlich kalter – Krieg bestimmt worden. Umgekehrt ist das Verhältnis der USA zur Sowjetunion, wegen des zurückgewiesenen Benutzungsinteresses d.h. wegen der Weigerung der SU ihre Ökonomie dem Weltmarkt auszusetzen gleichfalls auf ein Gewaltverhältnis reduziert worden.
- Das faschistische Deutschland hat mit seinem Weltkriegsprogramm Deutschland zurück in den Staatsgründungsmodus versetzt und sich damit sehr prinzipiell vom ‚normalen‘ Kalkül der kapitalistischen Benutzung der Welt emanzipiert. Es ging (angepasst an die Lage auf dem Schlachtfeld) um die Errichtung eines „Großgermanischen Reiches“, zu dem Norwegen, Dänemark, Niederlande und Siedlungsraum im Osten etc. gehören sollten.
- Israel bestimmt sein Verhältnis zu den Staaten der Region gleichfalls nicht auf der Grundlage eines Benutzungsinteresses, sondern auf der Grundlage eines Souveränitätskonflikts sans phrase d.h. als direkten Gewaltvergleich und ist damit mitnichten der „Normalfall staatlicher Souveränität“, sondern ein Staat in Gründung! Gerade das macht seine Besonderheiten (besetzte Gebiete, ethnische Vertreibung, territoriale Ansprüche) aus.
Auch beim Krieg in Gaza kann von diesem “Normalfall staatlicher Souveränität” keine Rede sein. Es gibt schlicht kein Benutzungsinteresse, das über den prinzipiellen Verfügungsanspruch Israels über die Palästinensergebiete als nationales Territorium hinausgeht.
Das Bedürfnis den Gaza Krieg unter das Interesse zu subsumieren den „Normalfall staatlicher Souveränität“ daran kritisieren zu wollen führt damit nicht nur wie vorher erklärt zur partiellen Abstraktion vom Erklärungsgegenstand, sondern zusätzlich zu einer falschen Aussage (nämlich der, dass Israel der Normalfall staatlicher Souveränität sei).
Die Besonderheiten, die nicht zu dieser Botschaft passen, werden auch hier ignoriert oder geleugnet und damit sind die resultierenden Artikel nur noch bedingt als Erklärung brauchbar. Man stellt eben tatsächlich und im Gegensatz zur Behauptung des Zitats die israelische Staatsgründung in Abrede, wenn man den Gaza Krieg unter den „Normalfall staatlicher Souveränität“ subsumiert.
Zusammenfassung
Nicht jede postulierte Abweichung von der Normalität ist tatsächlich ein. Dort, wo die postulierte Abweichung, keine von dem realen Normalität ist, sondern eine zu einem Idealismus über diese Normalität, ist Kritik von Nöten. Empört sich jemand über die Armut im Kapitalismus und behauptet, diese wäre ja EIGENTLICH nicht notwendig, dann gleich er seine Idealvorstellung über den Kapitalismus mit seiner Beobachtung ab, anstatt an der Beobachtung zu lernen, worum es im Kapitalismus tatsächlich geht.
Andererseits, ist es auch ein Fehler, jegliche Besprechung von Ausnahmefällen oder besonders harten Fällen zurückzuweisen, unter dem generell und abstrakten Hinweis, dass die BEtrachtung dieses Sonderfalls ALS Sonderfall, die Normalität “verharmlose”. Diese Fehler ist getrieben nicht durch eine wissenschaftliche Betrachtung der Normalität, der Abweichungen und ihrer Verhältnisse, sondern durch einen Agitationszweck: Gegen die Normalität, gegen das normale und regelmäßige Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft möchte man agitieren und Mitstreiter finden. Man will also verhindern, dass sich eine Opposition “nur” gegen den Sonderfall einstellt (zum Beispiel eine gesonderte Feindschaft gegen Überausbeutung oder Israel). In Konsequenz vereinnahmt man die Spezifika des Sonderfalls, indem man sie gleichsetzt mit denen des Normalfalls. Die Überausbeutung oder das Vorgehen Israels IST jetzt dasselbe wie die Ausbeutung oder der normale Verlauf staatlicher Gewalt zum Beispiel in Deutschland.
Damit verpasst man zweierlei:
- Man verpasst dem Vortragenden dieses Vorwurfs zu erklären, insofern es eine relevante Unterscheidung gibt, was der Normalfall ist, was der Sonderfall ist und wie er dazu in Bezug steht. Stattdessen wird ein Moralismus vorgetragen, der allein in der Behauptung eines Sonderfalls, schon ein vergehen festmacht
- Man verpasst zu dem die Kritik der Idealismen, die im Gegenüber tatsächlich am Werk sind, da man die Position des Gegenübers gar nicht für das nimmt was sie ist. Beklagt jemand Kriegsverbrechen, wirft man ihm vor für den guten Krieg zu sein. Dabei ist das gar nicht sein Standpunkt, sondern ein Idealismus über die Staatenwelt und ihrer Völkerrecht- und Kriegsrechte, den es zu kritisieren gelte. Das tut man aber nicht, sondern macht die logische Konsequenzen, die in den folgenden Gedankenschritten folgen WÜRDEN, dem Gegenüber zum VORWURF.
Diese Art des Moralismus dient also weder der Wissenschaft, noch der Agitation und sollte daher unterlassen werden.