Trotz der straff organisierten Parteilichkeit der hierzulande ansässigen Medien gelangen täglich neue Nachrichten über die Opfer und das Ausmaß der Zerstörung der Israelischen Operation in Gaza und auch in der Westbank irgendwie doch an die deutsche Öffentlichkeit. Dass hier ein neuer Umgang mit einer Zivilbevölkerung in einem Kriegsgebiet läuft, sickert durch, trotz der in den deutschen Medien allgegenwärtigen Versuche, die Glaubwürdigkeit der Opferzahlen in Frage zu stellen, mit so informativen Zusätzen wie: ‚Hamas behauptet:‘ oder ‚Hamas-nahes Gesundheitsministerium sagt:‘ zu bezweifeln:
Mittlerweile über 10.000 Tote, davon über 4.000 Kinder. Man geht von mehreren Tausend Opfern aus, die sich noch unter den Trümmern befinden, sowie mehrere Zehntausend Verletzte. Dazu kommen ständig Nachrichten von bombardierten Flüchtlingslagern, Krankenhäusern, Wohngebäuden, Schulen oder Ambulanzen im Einsatz. Je nach Interesse und Vernetztheit stößt man im Internet gewollt oder ungewollt auf Bilder von zerfetzten Körpern, trauernden Eltern und zitternden, verletzten Kindern.
Alles eine große Herausforderung für eine Staatsräson, die sich doch täglich dafür einsetzt, klarzustellen, dass Israel sich, Zitat: ‚mehr bemüht als irgendein anderer Staat es tun würde, Zivilisten zu verschonen‘.
Eine gängige Antwort auf diese Diskrepanz zum Ideal der “moralischsten Armee der Welt” ist häufig ein Gegenargument:
‚Ja, was soll denn Israel sonst tun? Die Hamas hat angegriffen und gezeigt, dass Koexistenz mit ihnen nicht möglich ist. Also muss Israel sich selbst verteidigen und die Hamas auslöschen. Die Hamas aber benutzt die Zivilbevölkerung als Schutzschild, und daher kann Israel nicht anders, als die Zivilisten als Kollateralschaden in Kauf zu nehmen. Die Opfer in Gaza sind also die Schuld der Hamas, und Israel ist zu diesen Angriffen auch nur wegen der Hamas gezwungen.‘
Wir widmen uns diesem Argument mal im Detail.
Zuerst methodisch: Das Gegenargument “Was soll Israel denn sonst tun?” bezweckt keine Klärung der Gründe für Israels Handeln, sondern setzt sie als gegeben voraus, in diesem Falle ohne sie zu nennen. Man soll sich das echte Interesse Israels zu eigen machen und dann wird gefragt, wie es denn vor dem Hintergrund dieses Interesses anders gehen soll. Das ist ein Einwand der versucht eine Kritik zu entkräften indem eine Verpflichtung aufgemacht wird, ein Imperativ, sich zu den Zwecken Israel zu bekennen und zu diesen Zwecken wird NUR konstruktive Kritik akzeptiert.
Eine ordentliche Hinterfragung dieses Gegenarguments muss also eine Prüfung der Gründe der Israelischen Operation beinhalten.
Betrachten wir den Inhalt des Arguments. Es ist ja richtig: Israels Operation im Gazastreifen ist beim ersten Blick eine Reaktion auf die grausamen Angriffe und Massaker vom 07. Oktober.
Aus diesem recht trivialen Faktum folgt aber gar nicht, dass Israel zu dieser ART der Reaktion gezwungen ist. Rein sachlich ist es andersherum:
Israel hat aufgrund seiner eigenen haushohen militärischen Überlegenheit und auch aufgrund der bedingungslosen Unterstützung durch die westlichen Staaten, sowohl finanziell als auch militärisch, wirklich alle Freiheit selbst zu entscheiden, wie es auf die Anschläge reagieren will.
Selbst wenn man israelische Gründe für die Gewalt abstrahieren will und einzig die Reaktion auf die Hamas als Grund zulassen möchte, kann man sich auch zig andere Reaktionen denken. Ein paar realistische und nicht so realistische Beispiele:
- Israel könnte noch extremer vorgehen; mittlerweile werden in der israelischen Öffentlichkeit ja sogar Nuklearschläge in Betracht gezogen.
- Israel könnte auch weniger drastisch vorgehen und mit Sondereinsatzkommandos versuchen, Hamas-Führer auszuschalten, wie es das in der Vergangenheit auch getan hat.
- Israel könnte zuerst auf Gewalt verzichten und die Verhandlungen um die Befreiung der Geiseln priorisieren, um später die Militäroperation gegen die Hamas fortzusetzen.
- Israel könnte auch nach dem Freikommen der Geiseln, auf Gewalt verzichten und versuchen, eine diplomatische Lösung mit der Hamas herbeizuführen, die zum Beispiel die Entwaffnung der Hamas bei gleichzeitigem Eingeständnis an die Souveränität seiner Regierung des Gazastreifens zum Ziel hat.
- Israel könnte sich für eine politische Lösung stark machen, die zum Ziel hat, das Leben der Menschen im Gazastreifen zu verbessern und einen Weg heraus aus dem Elend und der Besatzung zu schaffen, um damit den gesellschaftlichen Zuspruch der Hamas zu untergraben.
- Israel könnte die Grundlage für einen multiethnischen Staat schaffen, der die palästinensischen Gebiete mit einbezieht und in dem jeder Bürger gleiche demokratische Rechte besitzt.
All diese Alternativen sind unter Anbetracht der tatsächlichen Ziele, die Israel verfolgt und die dann doch jeder irgendwie schon kennt, natürlich durchaus nicht passend und deswegen auch teilweise so lächerlich. Aber wenn man von diesen tatsächlichen Zielen abstrahiert und nur die Reaktion, nur den Zwang als Grund der Aktion gelten lässt, dann bliebe trotzdem erstmal übrig:
Wie Israel reagiert, entscheidet Israel. Daraus folgt dann aber auch: Das gegenwärtige Vorgehen in Gaza, ist dann auch so vom Staat Israel gewollt.
Weiter: Eine Parallele könnte einem auffallen, wenn man sich die Verlautbarungen der Hamas anschaut: Deren Begründungen der israelischen Opfer unterscheiden sich nämlich gar nicht von der israelischen Begründung für ihre palästinensischen Opfer. Die Hamas sagt auch, dass ihr Angriff NUR eine Reaktion, NUR ein Befreiungsschlag gegen die Besatzung war und daher notwendig. Auch die Palsätinenser in Gaza haben ja tatsächlich über viele Jahre Gewalt erfahren und leben aufgrund der Besatzung unter täglicher Gewalt und schlimmsten Zuständen. Auch hier stimmt es also, dass dem Angriff der Hamas die Israelische Besatzungsgewalt vorausging. Auch bei denen könnte man ähnlich behaupten: “die können nicht anders” oder “die hatten keine Wahl”. Und tatsächlich werden sie ja auch von ihren Befürwortern so verteidigt. In dem Fall soll dann aber irgendwie doch ganz klar sein, wie das einzuordnen sei, nämlich als Vorwand oder zumindest nicht die richtige Erklärung für deren Handlungen. Wieso gilt also das exakt gleiche Argument in dem einen Fall schon, in dem anderen Fall nicht? Dafür muss es noch einen anderen Grund geben.
Kurz zum Nebenkriegsschauplatz: Die Hamas ist verantwortlich für alle Opfer in Gaza, so hören wir von unserem Bundeskanzler. Eine ganz banale Frage: Mittlerweile sind schon über 150 Palästinenser im Westjordanland getötet worden. 40 davon Kinder. An die 800 Menschen wurden aus ihren Häusern und Dörfern vertrieben. Nun ist die Hamas aber gar keine führende Kraft in der Westbank, als politische Kraft so gut wie gar nicht vertreten, konnte dort also auch nicht Israel zu irgendwelchen Handlungen “zwingen”. Was hat es denn dann eigentlich damit auf sich?
Nehmen wir uns zuletzt das Argument des Kollateralschadens vor:
Erstmal ist wichtig festzuhalten, dass Kollateralschäden keine Unfälle sind. Kollateralschäden sind vorhersehbar, berechenbar und von einer militärischen Führung vollständig akzeptiert, sonst würde es sie gar nicht geben. Es wird ja auch zu verstehen gegeben, dass die bei der Operation Israels eingepreist sind: Die Hamas nutze ‚Menschliche Schilde‘, und deswegen wären zivile Opfer unvermeidbar und müssten, Achtung, IN KAUF GENOMMEN WERDEN.
Nehmen wir das Argument mal ernst und lassen außen vor, dass selbst das Völkerrecht das Vernichten von menschlichen Schutzschilden nicht als rechtmäßig ansieht:
Was bedeutet das eigentlich, dass man das in Kauf nehmen muss? Wann wird der Preis zu hoch? Wenn Israel sowieso davon ausgeht, dass die Hamas sich hinter allen Menschen versteckt, was hält Israel eigentlich davon ab, gleich drei Atombomben auf Gaza zu werfen und Schluss mit all dem zu machen? Die Hamas ist doch vermeintlich überall. Selbst in Krankenhäusern, in Flüchtlingslagern, in Bäckereien und auf Fischerbooten. Auf jeden Fall ist die Hamas ÜBERALL DORT wo Israel bombardiert. Nach dieser Logik wären alle Menschen in Gaza zumindest potentielle menschliche Schutzschilde und per dieser Definition dann auch bei einem Nuklearschlag: “Kollateralschaden”.
Da stößt es einem aber natürlich sofort auf, sowas ginge ja gar nicht, also das wäre nun wirklich zu wahlloses Töten, zu undifferenziert und ganz und gar nicht verhältnismäßig. Dieser ‚Preis‘, der wäre also wirklich “zu teuer”.
Wenn das der Fall ist, dann stellt man damit erstmal fest, dass es anscheinend eine Grenze gibt, bis wohin man bereit ist ‚mitzugehen‘.
Ernsthafte Frage: Was wäre denn diese Grenze?
In der bisherigen Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern war das Verhältnis getöteter Israelis und getöteter Palästinenser nach offiziellen Zählungen ungefähr 1:10. Soll es das sein? Wann wäre der Kollateralschaden zu hoch? 20.000? 50.000? 100.000? Oder ist bei 10.000 Toten Kindern Schluss? Was ist die Zahl? Wenn eine Atombombe zu viel ist, ab wann ist diese Grenze erreicht?
An dieser zugegebenermaßen makabren Rechnung und an dem Fakt, dass die nun wirklich niemand vollzieht, merkt man doch, dass es dem Gegenargument, dass die Israelis gar nicht anders können, gar nicht um die Bestimmung der Sache geht, sondern nur um die schon vorher feststehende Parteilichkeit: Die israelische Gewalt in Gaza wird als moralisch richtig postuliert, und jedes Resultat und jede Opferzahl ist damit rückwirkend gerechtfertigt. Und damit ist auch das Rätsel gelöst, warum dasselbe Argument bei der Hamas nicht durchgeht.
Ausgehend von all diesen Einwänden sollte man sich also fragen: Ist es denn eigentlich tatsächlich so, wie behauptet wird, dass Israel NUR Hamas-Ziele angreifen will, nein muss, und dabei Kollateralschaden entsteht, oder ist es eher so, dass Israel ganz andere Kriegsziele verfolgt?
Bleibt also zu klären, was diese Kriegsziele sind. Mit der Aussage, sie wären ‚gezwungen‘, etwas zu tun, verkennt man jedenfall deren politisches Programm und auch das politische Programm jener, vorrangig westlichen Staaten, die die Zerstörung Gazas durch Israel mit diesem Argument gerechtfertigt sehen wollen. Das Staatsprogramm Israels muss allerdings an anderer Stelle mal grundsätzlicher geklärt werden. Aber die Schlussfolgerungen, die Israel aus den Angriffen der Hamas gezogen hat und auch recht ungeniert öffentlich verkündet, die kann man schon festhalten:
Das Problem, dass die Palästinenser in Gaza für Israel darstellen, soll nun ein für alle Mal gelöst werden. Auch die Westbank ist Teil dieses Problems, aber auch wenn die Gewalt und die Vertreibungen auch dort eskalieren, hat die Lösung des Gaza-Problems Priorität. Wie das ganze letztendlich passieren soll, ist wohl noch offen. Ob die genozidale Rhetorik, die in der israelischen und auch der westlichen Öffentlichkeit so weit verbreitet ist, und die auch nicht dem Bild und dem Ausmaß der Zerstörung und der Vernichtung von Leben in Gaza widerspricht, tatsächlich in die Tat umgesetzt wird, bleibt zu sehen. Vielleicht wird es aber auch “nur” darum gehen die materielle Basis für ein Überleben der Palästinenser im Gazastreifen zu zerstören, um eine Vertreibung zu ermöglichen. Offen wird schon diskutiert, ob die Palästinenser einfach auf die Sinai-Halbinsel verfrachtet werden sollen. Andere schlagen vor, jeweils 20.000 Menschen aus Gaza an 100 Länder in der Welt zu ‚verteilen‘. Diplomatische Versuche, Ägypten und Jordanien davon zu überzeugen, palästinensische Flüchtlinge aus Gaza aufzunehmen, sind andauernd.
Eins ist aber klar: Das Problem Gaza soll ein für alle Mal gelöst werden, eine Rückkehr zum Status quo scheint das erste Mal seit über 16 Jahren für Israel und den Westen ausgeschlossen. Und das erklärt dann wohl auch, warum die Gewalt gegen Gaza diesmal ein vorher ungeahntes Ausmaß annimmt.
Addendum: Netanyahu verkündete gerade vorgestern in einem Interview, dass seiner Ansicht nach, die Situation nach dem Krieg wieder auf eine weitere Besetzung Gazas durch Israel hinauslaufen müsse. Das wäre eine Abkehr von den bisherigen Verlautbarungen einer Nicht-Rückkehr zum Status-Quo. Am Ende wird es vielleicht doch wieder die gute alte Besatzung Gazastreifens? Man wird sehen: Biden hat schon angekündigt, dass die USA mit einer solchen Lösung nicht einverstanden wären.