Was ist von einem staatlichen Anspruch zu halten, nach Kräften Weltmacht zu sein? Im Fall Deutschlands fällt die Antwort leicht: das ist ein edler, hehrer und vor allem unumgänglicher Zweck, wegen »Verantwortung« und so (z. B. »Brunnenbohren« am Hindukusch und anderswo). Schlimmer verhält es sich beim Feind: dessen Geltungsstreben ist »unberechtigt«, da – so einfach ist das – »verwerflich«. Bei Austragung von Feindschaften ist das Interesse des Gegners immer verrückt (»durchgeknallt«, »wahnsinnig«), böse motiviert (»unterwerfungs-«, »eroberungs-« und »mordlüstern«) und verstößt gegen Volks- und Menschheitsrechte, die sich die Nationen auf ihre Fahnen schreiben und mit Kriegen zu verteidigen gezwungen sehen.
Neben allen fortwährend bekräftigten Verteufelungen Russlands (was nichts dafür hergibt, dieses umgekehrt zu verhimmeln) wird auch von deutschen/EU-Kriegsbefürwortern gesehen, dass die NATO-Osterweiterung der Grund für Putins Krieg ist; allerdings mit der Verdrehung, auf die allein es ihnen ankommt, dass dieser Grund bloß eine Nebelkerze, eine durchsichtige Bemäntelung seines eigentlichen Vorhabens sei, das in Wahrheit Putins schierer Bösartigkeit entspringe. Dass er, nach zig von ihm abgegebenen Klarstellungen und unbeeindruckten Fortsetzungen einer Einkreisung durch Staaten, die ihn seit Jahren ihrer unverbrüchlichen Feindschaft zu ihm versichern, die von ihm angekündigte Konsequenz zieht, beweist seine Bösartigkeit glasklar; schließlich könnte er sich ja auch, was ihm die NATO beständig nahelegt, seines Weltmachtanspruchs (»unserer« steht wie gesagt außer Frage) per Kapitulation entschlagen. Dass er das nicht tut, erweist seine Bösartigkeit – eine vom kriegsbereiten deutschen Volk geteilte Wahrheit.
Nun sei einmal kontrafaktisch eingeräumt, Putin agiere aus einer (»besessenen«, die Wirklichkeit gar nicht treffenden) »Wahrnehmung« heraus. Mit der Betonung dieser Wahrnehmung weisen die oft bespöttelten »Neo-Realisten« (z. B. Mearsheimer und Sachs) bei all ihrem Staatsidealismus auf die zwar banale, aber tatsächlich über Leben und Tod entscheidende Sache hin: von Staatenlenkern, ihren Parlamenten und ihrem Volk aus welchen »Gründen«, Schmünden, auch immer geteilte Sichtweisen, so »verrückt« und »wahnhaft« sie auch anmuten oder sogar sein mögen, verändern die Wirklichkeit. Echt jetzt. Zum Abamseln schon vor natürlichen Lebenszeitenden.
Tarik Cyril Amar hat in einer neulichen 99 ZU EINS-Folge (sowie in seinen Substack-Podcasts) darauf hingewiesen: Russland ist mit einer nach wie vor aufrechterhaltenen und von der EU befeuerten Kapitulationsaufforderung konfrontiert, die ihm extreme Kalkulationen (zu denen ein Kiesewetter ein »Bangemachen gilt nicht« empfiehlt) nahelegt. Die russischen Strategieüberlegungen werden desto extremer, dem Hiroshima-Beispiel der USA folgend, ausfallen, je mehr sich die EU eigenständig zu einem besonders durchschlagskräftigen Arm der NATO ertüchtigt und damit, zu Mut willig, auch Krieg auf ihrem Territorium gefasst entgegensieht. »Wahnsinn« von diesen bloß ausgetickt »Wahrnehmenden«? Er ist einer, der davon weiß – wozu hat man seine konstruktiven Strategen? –, dass Russland das Eskalationsspiel subnuklearer Kriegsführung nicht zwangsläufig mitzumachen braucht. Warum sollte es nicht zu Atomschlägen greifen, wenn ihm diese als das probate Mittel, bevor es »zu spät« ist, einfallen – gegen Paris, London, Berlin u. ä.? Dies wird jeder Stratege, der seinen Sold wert und dem »operation unthinkable« kein Fremdwort ist, seinen Feindkollegen nicht verdenken können, denn logisch ist es ja schon. Tja, auch das könnte »mal eben so« passieren. Mal abwarten, was die USA dann zum Schlachtfeld Europa/Deutschland so meinen.
Fazit: Man kann sie »Wahnsinn« nennen oder aus der Konkurrenz kapitalistischer Staaten/Nationen ableiten – egal. Die Kriegswilligkeit hüben wie drüben kümmert sich darum: »Sein oder Nichtsein?«. Das ist die nationale Frage. Und weil sie national ist, richtet sie sich nicht an Bourgeois Max Mustermann – »ours is not to reason why« –, sondern ihre Konsequenz leuchtet ihm als Citoyen auch ein: »Ours is but to do or die«. Nicht nur der Slawe kennt Todesseligkeit. So viel zum »Wahn«. Er wirkt jedenfalls, als gewollter.