20. Juli 2024

Zum Gaza-Krieg – Kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenstandpunkt und Usama Taraben

Der Gegenstandpunkt hat sich in den Nummern 04/23 und 02/24 mit dem Gaza-Krieg beschäftigt. Usama Taraben hat versucht, diese Inhalte in eigenen Worten in zwei Folgen des Podcasts 99 ZU EINS (Episode 323 von 11/2023 und Episode 390 von 06/2024) dem geneigten Publikum näherzubringen, und wir sind dabei mit einigen der vorgestellten Punkte nicht einverstanden. […]
99 ZU EINS

Der Gegenstandpunkt hat sich in den Nummern 04/23 und 02/24 mit dem Gaza-Krieg beschäftigt. Usama Taraben hat versucht, diese Inhalte in eigenen Worten in zwei Folgen des Podcasts 99 ZU EINS (Episode 323 von 11/2023 und Episode 390 von 06/2024) dem geneigten Publikum näherzubringen, und wir sind dabei mit einigen der vorgestellten Punkte nicht einverstanden. Im Folgenden soll ausgeführt werden, warum. Der erste Streitpunkt dreht sich um die Bestimmung der israelischen “Terrorvernichtungsaktion” und deren Verhältnis zur zionistischen Staatsräson. Die zweite Auseinandersetzung beschäftigt sich mit der Erklärung der Gründe und Motivationen der weltweiten Proteste gegen den Gaza-Krieg.
Nicht verschwiegen werden soll, dass wir weiten Teilen beider Artikel und auch einigen Teilen von Usamas Ausführungen zustimmen können und im Folgenden u. a. Inhalte dieser Artikel zur Begründung unserer Kritik verwenden. 

I. Terrorvernichtungsaktion vs. zionistische Staatsräson

I.I. Über den Terror der Hamas

Die Hamas überfällt am 07.10.2023 Israel, wobei ca. 1200 Israelis umkommen. Diese Aktion ist nicht auf einen militärischen Sieg der Hamas gegen Israel berechnet, dazu fehlen der Hamas die Mittel. Die Gewalt der Hamas ist also gemessen am militärischen Potential Israels ohnmächtige Gewalt, der es darum geht, Schrecken (lat. Terror) zu verbreiten und damit Rechtsansprüche zu bekräftigen und Botschaften zu senden. Dabei geht es der Hamas vor allem darum, Israel, der arabischen wie auch der restlichen Welt zu übermitteln, dass es einen palästinensischen Staatsgründungswillen überhaupt gibt und er Berücksichtigung verdient. Gegenüber Israel stellt sie klar, dass seine Verhinderung einer palästinensischen Staatlichkeit zur Konsequenz hat, mit Gewaltaktionen wie der am 07.10. und der damit verbundenen Störung des zivilen Lebens umgehen zu müssen. Das Vorgehen gegen israelische Zivilisten setzt dabei die Hoheit des israelischen Staates über seine Bürger demonstrativ außer Kraft und unterstreicht so den Rechtsstandpunkt der Hamas, dass deren Anwesenheit in Palästina grundsätzlich unberechtigt sei. Darüber hinaus will die Hamas wie alle Terroristen ihre Aktion als Fanal verstanden wissen. Die Bewohner der besetzten Gebiete will sie mit der punktuellen Relativierung israelischer Überlegenheit zum Widerstand aufrufen, Verbündete wie die Hisbollah sollen sich ihrem Kampf anschließen und die arabischen Staaten die Normalisierungspolitik ihrer Beziehungen zu Israel aufgeben.

Bei ihrer Aktion nimmt die Hamas 250 Geiseln, die sie als Verhandlungsmasse gegen Israel in Anschlag bringen will. Alles in allem ein Terroranschlag, wie er im Buche steht.

I.II. Über Staaten und ihre „Terroristen“

Die genannten sachlichen Bestimmungen charakterisieren den Überfall der Hamas lehrbuchreif als Terrorismus. Darüber hinaus hat die Bezichtigung des Terrorismus eine politische Konnotation: Wenn Staaten ihre Gegner des Terrorismus bezichtigen, dann geht es ihnen nicht um ein theoretisches Urteil, sondern darum, deren Gewalt als grundsätzlich unrechtmäßig zu kennzeichnen. Den so des Terrorismus „überführten“ Gegnern fehlt dann in der öffentlichen Wahrnehmung mit der Rechtmäßigkeit auch jeglicher Zweck ihrer Aktion, außer eben unrechtmäßige Gewalt auszuüben und darin ziemlich böse zu sein. Die Benennung eines Interesses der so identifizierten „Terroristen“ gilt als Versuch ihrer Entschuldigung. Jeder Erklärungsversuch ist Verharmlosung ihrer bösen Tat. Dem so konstruierten Feindbild entspricht selbstredend nur eine staatliche Maßnahme: Terrorvernichtung.

I.III. Über Israel und seine „Terrorvernichtungsaktion“

Die Gewalt der Hamas ist aus israelischer Perspektive auch ohne den Überfall vom 07.10.2023 grundsätzlich unrechtmäßig, da sie einen Staatswillen repräsentiert, der den israelischen Anspruch auf (wenigstens) ganz Palästina als sein Staatsgebiet ausschließt. Deshalb ist jeder palästinensische Staatswille, der sich als autonome Gewalt Israel entgegenstellt, aus israelischer Perspektive „Terrorismus“ und dementsprechend beschließt die israelische Regierung nach dem 07.10.2023 eine Vernichtungsaktion gegen die Hamas. Auffallen sollte hier, dass es der israelische Anspruch auf ganz Palästina ist, der die Gewalt der Hamas aus israelischer Perspektive jeglicher Rechtmäßigkeit beraubt. Die Terrorvernichtungsaktion ist also nichts weiter, als die Exekution dieses Programms, Kontrolle über den von der Hamas kontrollierten Teil Palästinas herzustellen und ihn in das israelische Staatsgebiet aufzunehmen. Dieser Annexion und der daraufhin folgenden zionistischen Kolonisierung stehen die von Israel ausgeschlossenen Bewohner Gazas im Weg, wofür so ziemlich alle israelischen Regierungsmitglieder mit dem gleichen Lösungsvorschlag aufwarten.

Usama äußert im Stream, dass er das nicht wahrgenommen habe, weshalb wir mal ein Zitat von Netanyahu, der ja auch im Gegenstandpunkt zitiert wird, als eines von vielen Beispielen aufführen wollen:

As far as the State of Israel is concerned, there is no obstacle for the Gazans to leave, maybe even the port they are building could be used for this, but there are no countries in the world that are ready to receive them.“ (B.Netanyahu, 19.03.2024)

Dieses einfache Sender-Receiver-Modell für Gazawis (Israel → other countries of the world) ist der Lösungsvorschlag der israelischen Regierung für das Palästinenserproblem in Gaza. Das hat Usama im Stream nicht überzeugt, weshalb wir uns die Frage erlauben, was an dem Zitat von B. Netanyahu im Gegenstandpunkt überzeugender ist? Die Person des Absenders kann es jedenfalls nicht sein, da sie ein und dieselbe ist.

Usama weiß natürlich, dass es solche Äußerungen von so ziemlich allen Regierungsmitgliedern in Israel gibt und ist auch darauf eingegangen. Nach seiner Auffassung handelt es sich dabei um eine Fraktion der israelischen Politik, um Kräfte, die da irgendwo unterwegs seien. Nur stellen diese Kräfte eben die Regierung. Was er damit nachvollzieht, ist die Trennung der ethnischen Vertreibung vom israelischen Staat, die Israel spätestens seit 1967 praktiziert: Der israelische Staat überlässt den Teil seines Staatsprogramms den Siedlern, die im Schutz seines Besatzungsregimes die Landnahme vorantreiben. Das sind also keine „Fraktionen“ oder „Kräfte“, sondern private Aktivisten des israelischen Staates, die unter seinem Schutz sein Staatsprogramm exekutieren und in der zionistischen Diaspora für ständigen Siedlernachschub werben. Landnahme braucht nämlich Leute, die sie exekutieren, welche zu einem größeren Teil in der Diaspora rekrutiert werden. Die Siedler als etwas von Israel Getrenntes zu betrachten, affirmiert die Praxis ethnischer Vertreibung, wie sie der israelische Staat organisiert und verstanden haben will.

I.IV. Über Israels Souveränität

Das alles findet Usama nach eigener Aussage in Gaza nicht vor. Dort soll es nur um eine reine Terrorvernichtungsaktion gehen, um die Herstellung der Souveränität Israels, die durch die Hamas herausgefordert worden ist. Er begreift (im Gegensatz zum vorigen Abschnitt) die Terrorvernichtungsaktion als etwas vom israelischen Staatsprogramm Verschiedenes und streicht damit das Kriterium durch, entlang dessen Staaten Terroristen identifizieren. Es ist eben ihre Rechtslage, es sind ihre Zwecke, die Gewalt als unrechtmäßig und damit terroristisch erscheinen lassen, d.h. es ist das Verhältnis des Inhalts der sich gewaltsam äußernden Bewegung zum geltenden Recht bzw. den Zwecken des jeweiligen Staates. Erkennt der Staat keinerlei erlaubter Betätigung würdiges Interesse in der Gewalt gegen sich (wie im Fall eines palästinensischen Staatswillens), schließt er auf Unrechtmäßigkeit bzw. Terrorismus.  Davon sieht Usama programmatisch ab, wenn er über Souveränität an sich redet; er abstrahiert damit von allem, was den Inhalt israelischer Souveränität ausmacht.

Die Kritiker seiner Totalabstraktion identifiziert er mit einer Verschwörungstheorie. Sie würden behaupten, es ginge bei der Terrorvernichtungsaktion eigentlich um ethnische Vertreibung. Er unterstellt ihnen also die Abstraktion vom israelischen Kriegsziel, die Hamas zu vernichten. Die Kritik an ihm ist aber, dass er verkennt, dass die Terrorvernichtungsaktion die Exekution des israelischen Staatsprogramms (und damit ethnische Vertreibung) ist. Die Terrordefinition und Vernichtung ist vom israelischen Staatsprogramm nicht zu trennen und das erklärt eben einen großen Teil des Vorgehens der IDF in Gaza. Für Usama ist das zionistische Programm und seine Umsetzung dagegen nur ein von der Erklärung getrenntes Add-on, das nicht vergessen werden sollte, weshalb es am Ende des Gesprächs auch noch vorkommt. Diese Trennung macht uns in Bezug auf den Erklärungswert seiner Ausführungen misstrauisch und wenn diese zu den „heiligen Kühen“ gehört, die er schlachten wollte, dann bleiben wir lieber ihre Hirten.

I.V. Über Usamas Idee von der israelischen Terrorvernichtungsaktion

Usama steht dann vor dem theoretischen Problem, irgendwie das Vorgehen der IDF gegen alle Bewohner Gazas, das Aushungern der Gazawis usw. aus seiner Vorstellung der Terrorvernichtungsaktion abzuleiten. Wir haben das Problem nicht, weil sich das Vorhaben aus dem israelischen Staatsprogramm ergibt, das in Gaza durchgesetzt wird, wollen seine Idee aber dennoch würdigen.

Zutreffend stellt er fest, dass sich die Hamas durch ihre Herrschaft über den Gazastreifen eine soziale Basis geschaffen hat und sich damit von einer Terrororganisation, die z.B. auf der sozialen Basis eines von ihr bekämpften Staates operiert, unterscheidet. Im letzten Fall sind die Bürger des Staates keine oder nur sehr bedingt soziale Basis der Terrorgruppe. Nach Usamas Auffassung nimmt der israelische Staat die Bevölkerung Gazas als soziale Basis des alternativen Staatswillens, repräsentiert durch die Hamas, wahr. Daher schließt er sie in seinen Vernichtungszweck ein, um auszuschließen, dass ein Standpunkt, wie die Hamas ihn vertritt, jemals noch gegen ihn antreten könne. Das wollen wir ihm überhaupt nicht bestreiten, da genau das der Zweck ist, der dem israelischen Staatsprogramm entspricht, da Israel die Terrordefinition ja genau aus diesem ableitet. Alle Gazawis sind Terroristen, so das israelische Verdikt. Als Herrschaft (Hamas) repräsentieren sie aus israelischer Perspektive einen terroristischen Willen und als soziale Basis sind sie der terroristische Sumpf, der sich nicht austrocknen lässt, ohne dass man sich ihrer entledigt. 

Widersprechen müssen wir Usama darin, dass das, im Gegensatz zu unseren Ausführungen, die Erklärung des israelischen Vorgehens in Gaza sei. Nein, er führt nur aus, wie dem zionistischen Staat sein Programm an den Gazawis erscheint. Die Praxis der Niederhaltung und Blockade der Gazawis sorgt für diese Perspektive des israelischen Staates. Somit überzeugt der israelische Staat sich durch seine eigenen Werke davon, dass ein palästinensischer Staat bzw. eine Nachbarschaft mit den Palästinensern in Palästina ein Ding der Unmöglichkeit ist. Er beschließt, dass die dort ansässige Bevölkerung als sein Staatsvolk ungeeignet ist. Er sperrt sie ein, weil und solange ihre Vertreibung für ihn politisch nicht opportun ist und sie organisiert eine Gegengewalt gegen ihn, die sein Unverträglichkeitsurteil mit diesem aus seiner Sicht falschen Volk auf der Ebene direkter gewaltsamer Konfrontation reproduziert. Es ist also nur eine Verwandlung und Eskalation des zionistischen Staatsprogramms, die Usama beschreibt.

I.VI. Über Israels Schranken

Usama zum Sechstagekrieg:

„[Den Sinai] hat es im Handstreich in diesem berühmten sechs Tage Krieg besetzt und dann hat es frei seinen eigenen Entscheidungen folgend entschieden, das braucht’s nicht, damit kaufe ich den Ägyptern die Anerkennung ihrer totalen Unterlegenheit uns gegen oder ja Israel gegenüber ab und bewege sie zur offiziellen Aufgabe jeder feindlichen Ambition. Derselben Logik folgend die Behandlung des Gazastreifens.”

Den Sinai hat es gebraucht – eben dazu, Ägypten zum Friedensschluss (12 Jahre später) zu erpressen. Es ist kein Beweis besonderer Souveränität, wenn Israel sich dagegen entscheidet, den Sinai als Siedlungsgebiet zu nutzen. Die einzige Sache, die man feststellen kann, ist, dass wenn in Folge eines Krieges ein Staat das Territorium eines anderen besetzt, dieser gegen den unterlegenen Staat Souveränität über das besetzte Territorium ausübt. Israel war schon kurz nach dem Sechstagekrieg klar, dass es nicht in der Lage ist, eine Annexion des Sinai (und des Golan) durchzusetzen. Ägypten hat auch nicht seine totale Unterlegenheit anerkannt, sondern es hat mit dem Friedensschluss Israel anerkannt – ein Tauschgeschäft, das Israel unmittelbar nach dem Krieg Ägypten und Syrien (Golan) angeboten hat und das von Ägypten 12 Jahre später angenommen worden ist, was wesentlich auf den Blockwechsel Ägyptens zurückzuführen ist (von der SU zu den USA). Dass der Gaza-Streifen derselben Logik folge, ist falsch. Mit seiner Aufgabe (an die PLO!?) hätte Israel überhaupt nichts für sein Staatsprogramm tun können, weshalb es ihn auch nicht aufgegeben, sondern angefangen hat, ihn genau wie die Westbank zu kolonisieren und dort Siedlungen zu errichten.

Was auch überhaupt nicht stimmt, ist, dass Israel sich zum Sinai, dem Gaza-Streifen usw. „frei seinen Entscheidungen folgend“ verhalten würde. Und Usama meint hier „frei“ im Sinne von unbeschränkt. Das kann kaum ein Staat und Israel schon 3x nicht. Den Artikeln im Gegenstandpunkt kann er entnehmen, dass Israel der (wahrscheinlich) einzige Staat der Welt ist, über dessen (beanspruchtes) Staatsterritorium es eine äußere, internationale Rechtslage gibt, die von den maßgeblichen Staaten der Welt getragen wird (die UN-Resolutionen, in denen festgeschrieben wird, dass das Mandatsgebiet in einen arabischen und einen jüdischen Staat aufzuteilen ist). Das sieht nicht wie eine besondere Unbeschränktheit, sondern wie eine zusätzliche Beschränkung aus, mit der Israel umzugehen hat.

Diese Beschränkung sorgt dafür, dass jeder größere Konflikt, den Israel im Zuge der Durchsetzung seines Landnahmeprogramms eingeht, nahezu umgehend im Weltsicherheitsrat landet und so das Interesse der sich dazu berufen fühlenden Staaten der Welt auf sich zieht. Das Vorgehen Myanmars gegen die Rohingya zieht bei weitem nicht das gleiche Interesse der Staatenwelt auf sich, wie der jetzige oder die vorangegangenen Gaza-Kriege. Das liegt eben daran, dass der Umstand, dass es da einen äußeren Rechtsstandpunkt gibt, die Regelungskompetenz der Staaten herausfordert, die sich als Sachwalter dieses Rechts auffassen.

Israel ist ohne Zweifel eine Regionalmacht, aber den Staaten, die gegen die von Israel geschaffene Tatsache, dass es inzwischen das ganze ehemalige Mandatsgebiet beherrscht, den Rechtsstandpunkt hochhalten, dass es einen Palästinenserstaat geben muss, reicht es weder ökonomisch noch militärisch das Wasser und das heißt nichts anderes als dass diese seine Souveränität beschränken. Sie lassen die Vertreibung der Palästinenser einfach nicht umstandslos zu und unterhalten zusätzlich noch das UNRWA, das dafür sorgt, dass die menschliche Basis eines Palästinenserstaates innerhalb und außerhalb des Mandatsgebietes erhalten wird. Israels militärische Kampagnen unterwerfen sie ihrem Vorbehalt, gestehen Israel Titel zu, unter denen es vorgehen darf (Terrorbekämpfung) und messen es gleichzeitig an ihrer Auffassung von Terror, die eben von der israelischen abweicht, da sie die Gazawis nicht mit einem Terrorsumpf gleichsetzen, sondern unter ihnen auch „unschuldige Zivilisten“ ausmachen können, die das Material ihres Standpunkts sind, dass es irgendwann mal einen palästinensischen Staat geben sollte. Daraus ergibt sich dann wieder ihre Mahnung an Israel, sich doch an die Terrorbekämpfung gemäß ihrer Lizenz zu halten.

Umgekehrt muss sich Israel mit einem großen Teil der Staaten ins Benehmen setzen, die anlässlich seiner Expeditionen gegen die Palästinenser und auch bezüglich des Umgangs mit ihnen zwischen seinen Feldzügen Regelungsbedarf anmelden, wann immer sie eine bedenkliche Lage der Palästinenser ausmachen, da es ihr Geschöpf ist: Israel braucht seine Garantiemächte (USA, Deutschland, …), um seine Staatlichkeit überhaupt in der feindlichen Umgebung, die es durch sein Siedlungsprogramm geschaffen hat, durchsetzen und behaupten zu können.

All die oben genannten Rücksichten, die Israel zu nehmen hat, sorgen dann für das Erscheinungsbild, welches das zionistische Kolonisierungsprojekt abgibt. Israel trennt die Landnahme von sich ab und überlässt sie den Siedlern, schafft Rechtslagen mit Rücksicht auf das Völkerrecht, das, wann immer es seine Garantiemächte für nötig halten, gegen Israel in Anschlag gebracht wird, betreibt Lobbyarbeit in den entsprechenden Staaten, versucht ihre Öffentlichkeit zu beeinflussen, pflegt seine Diaspora und widersetzt sich den Forderungen sowohl seiner Verbündeten als auch der in der UN versammelten Staatenwelt so gut es das kann.

I.VII. Über Israels Freiheiten

Dabei fällt auf, dass sich Israel in seiner Widerständigkeit oft erfolgreich auch gegen die USA behaupten kann und sich nicht in seinem – schon auf deren Reaktion zugeschnittenen – Vorgehen gegen die Palästinenser beschränken lässt. Der Zuschnitt besteht dabei im durch die Gestaltung des Vorgehens gemachten Angebot an seine Garantiemächte, die israelische Rücksichtslosigkeit gegen die Palästinenser doch als Entsprechung zu ihrem Rechtsstandpunkt zu interpretieren. So werden die Gazawis nicht direkt vertrieben, sondern durch die vollständige Zerstörung ihrer Lebensgrundlage wird Israels Programm, sie nicht mehr in Gaza haben zu wollen, als Teil des von seinen Garantiemächten abgesegneten Antiterrorkampfes umgesetzt. Israels Widerstand gegen die Beschränkung, die seine Verbündeten ihm auferlegen wollen, findet dann im Streit darum statt, ob wirklich alle Zerstörungen und Opfer, die Israel als Teil seines ethnischen Vertreibungsprogrammes in Gaza verursacht, auch zur Bekämpfung der Hamas notwendig seien. Es beharrt auf der militärischen Notwendigkeit der Zerstörungen, wahrt so den Schein ihnen zu entsprechen und eröffnet seinen Verbündeten die Kalkulation, wieviel ihnen denn die Einhegung israelischer Intransignenz und Rücksichtslosigkeit gegen die Palästinenser Wert ist.

Auf der Habenseite kann Israel bei dieser Wertermittlung gegenüber seinen Verbündeten seinen Status als major non-NATO ally verbuchen. Diesen Status verleihen die USA jenen Staaten, die sie in ihr Aufsichtsregime über die Staatenwelt als mehr oder weniger zu NATO-Verbündeten gleichgestellte Staaten einbinden. Das entschränkt und privilegiert Israel gegenüber den Staaten der Region. Es handelt daher nicht nur Kraft eigener Machtvollkommenheit, sondern kann sich dabei auf sein besonderes Bündnis mit den USA in Sachen Beaufsichtigung der Staatenwelt berufen, das ihm Zugang zu militärischen Spitzenprodukten der US-Rüstungsindustrie verschafft, die israelischen Rüstungsfirmen berechtigt, sich an militärischen Ausschreibungen der USA zu beteiligen und Israel berechtigt, an militärischen Kampagnen der USA teilzunehmen. Es ist also nicht nur eine rechtliche Einbindung in die US-Weltaufsicht, die mit diesem Status verbunden ist, sondern Israel wird damit sowohl militärisch als auch ökonomisch in die US-Weltherrschaft integriert.

Das ist das Pfund, mit dem Israel wuchern kann und das die Grundlage abgibt, auf der sich die USA zu den israelischen Kampagnen zur Durchsetzung seiner völkischen Staatsräson stellen. Das verdeutlicht, was die USA aufs Spiel setzen, wenn sie, wie von den Protesten gefordert, ihre Waffenlieferungen an Israel einstellen oder zurückhalten, weshalb das nie ohne Weiteres – schon gar nicht vollständig und meistens eher symbolisch – stattfindet und Israels zionistische Brandrodung des Gaza-Streifens von den USA zunächst mit einer Lizenz zur Terrorvernichtung begleitet und von einem Aufmarsch im Nahen Osten flankiert worden ist.

Die USA (und ihre Verbündeten) haben dabei das Dilemma, dass ihr Verbündeter mit seinem Programm ethnischer Vertreibung und militärischer Vorwärtsverteidigung nach Lesart der Staatenwelt gegen das verstößt, was nach ihrer Interpretation des Völkerrechts zwischen Staaten stattfinden sollte. Diese Ausnahme vom Völkerrecht, die Israel für sich beansprucht ist eine Belastung für die US-Weltaufsicht, die Israels Vorgehen daher bei allen seinen Kampagnen wo nötig um eine moralische – jedenfalls nie substanzielle – Kampagne für seine Opfer ergänzt, um so imperialistische Verwerfungen in der Region und weltweit zu moderieren.

II. Der Gegenstandpunkt und die Proteste zum Gaza Krieg 

II.I. Über Opfer und Parteilichkeit (1)

[..] weil die vielen, eindringlich publizierten Opfer doch niemanden kaltlassen können. Schon gar nicht die jeweils vorgeführten Opfer das jeweils angesprochene Publikum: frohgemute Party-

gäste, Menschen wie ich und du, in guter Stimmung unversehens überfallen, vergewaltigt, entführt, umgebracht, auf der einen Seite; auf der anderen Seite Familien mit Kindern, die aus ihren ohnehin elenden Lebensverhältnissen herausgebombt und in eine Hungersnot gestürzt werden, mit Verwandten in demokratisch akzeptierten Communitys hierzulande. [..] Nur: ein Kriterium dafür, welche Opfer die jeweils andere Seite zu Tätern machen, bekommt der kundige Moralismus damit nicht wirklich an die Hand. All die engagierten Debatten, die, teilweise unter gewissen moralischen Vorbehalten, Heimtücke gegen Opferzahlen und umgekehrt abwägen, belegen tatsächlich nur, dass die grauenhaften Fakten, die überzeugen sollen, nur für schon Überzeugte zählen; nicht als Argumente, sondern als Belege dafür, die richtige Seite gewählt zu haben.“ (GS 04/24 S.25)

Dass es sich so nicht verhalten kann, könnte daran auffallen, dass der Verweis auf die Opfer Teil der Kriegspropaganda ist und damit sehr wohl bezweckt ist, Parteilichkeit herzustellen. Das Argument, das dem damit konfrontierten Publikum einleuchten soll, ist, dass der Umgang, den der (in der Propaganda unterstellte) Feind mit Kindern, Zivilisten, Kriegsgefangenen usw. pflegt, deren bürgerlicher Existenz nicht angemessen ist, weshalb man gegen ihn Partei ergreifen soll. Für den Schöpfer der Propaganda steht die Parteilichkeit fest; er illustriert seinen Standpunkt damit – aber eben, weil er das Publikum für seinen Standpunkt einnehmen will. Könnte das der Verweis auf die Kriegsopfer nicht leisten, wären sie kein Material der Kriegspropaganda.

Wie funktioniert diese Überzeugungsarbeit bei den Adressaten? Die Grausamkeiten des Krieges werden ihnen als solche des Feindes vorgeführt; der Feind ist also bei der ganzen Übung als Prämisse unterstellt und die Opfer sollen das Publikum zur Übernahme der Feindschaftserklärung bewegen. Dabei sind sie angehalten, das Schicksal der Opfer ideell zu teilen und so den Feind als solchen zu erfahren. Das Urteil, das so über den Feind entsteht, ist ein emotionales Urteil, d.h. ein so überzeugter Zeitgenosse fühlt die Feindschaft. Er verbindet das Gefühl, dass man beim Anblick der Grausamkeiten des Krieges hat mit der Feindschaftserklärung.

Deshalb überbieten sich die PR-Abteilungen der Kriegsparteien in der zielgerichteten Zurschaustellung von Kriegsopfern, von denen manchmal nicht einmal Bilder, sondern nur Erzählungen präsentiert werden. Offenbar reicht das schon, um die Feindschaft als Gefühl im interessierten Publikum zu verankern, weil das Kopfkino der Adressaten die fehlenden Bilder (und u.U. überhaupt die fehlenden Opfer) ersetzt.

Dabei kann sowohl die Abscheu der Ausgangspunkt der Übernahme der Feindschaft sein als auch die Feindschaft durch die sinnliche Erfahrung der Opfer emotionalisiert werden. Es sind eben zwei voneinander getrennte Bewusstseinsakte, die in der gefühlten Feindschaft vereint werden. Auch deshalb wird der Zusammenschluss beider Momente nicht dem Zufall überlassen, sondern öffentlich angeleitet und betreut.

Obigem Zitat ist z.B. zu entnehmen, dass auch der Verfasser des Artikels ‚Grauen‘ empfindet. Für ihn macht das seine Kritik an den Verhältnissen einen Moment lang zu einem emotionalen Urteil. Ihn graut es und er weiß, woher das Grauenhafte kommt, legt es beispielsweise dem Nationalstaat zur Last und darin ist er frei. Er kann mit diesem Grauen auch das Urteil fühlen, dass der Mensch des Menschen Wolf sei. Insofern sind die Opfer einerseits nur ein Argument für Überzeugte (also keines), andererseits sehr wohl eine Gelegenheit für jeden, welche Überzeugung auch immer an ihnen zu erfahren oder dem Grauen eine Überzeugung beizustellen und Partei zu ergreifen. Darum wird dann in der Öffentlichkeit gerungen, das ist der Inhalt dieser heftigen Debatten. Um die Ursache der vielen Opfer wird ausdrücklich nicht gestritten, von der ist abstrahiert, wenn es darum geht, jemanden – nämlich den Feind – zum Verantwortlichen zu machen.

II.II. Über Opfer und Parteilichkeit (2)

Nach dem oben Gesagten sollte klar sein, dass der Krieg in Gaza an Standpunkten und Parteilichkeit zunächst nur das reproduziert, was es ohnehin vorher in der Gesellschaft schon gab – nur eben emotionalisiert, als unvermittelt gefühlte Parteinahme. Die Präsentation des Kriegselends drängt aber auch vorher davon unberührte Teile der Gesellschaft dazu, sich zu positionieren, ganz einfach, indem es vom Staat auf die Tagesordnung gesetzt und durch die Medien der Öffentlichkeit vorgeführt wird. Die Medien beginnen bei der Emotion, die man bei der Kenntnisnahme des Elends empfindet. Dem wird für gewöhnlich gleich das Kriterium beigestellt, entlang dessen man sich davon erschüttern lassen soll: das staatliche Interesse. Dabei fällt selbst bei z.B. nahezu vollständiger Parteinahme der Bevölkerung für den deutschen Staat auf, dass sich das deutsch-israelische Verhältnis nicht in der Parteinahme der Bürger abbildet, sondern diese in größerer Zahl dazu tendieren, Israel und seine Besatzung für die Opfer verantwortlich zu machen und mit den Palästinensern zu leiden. Die deutsche Staatsräson bezüglich Israel ist dagegen etwas, das eher von der Politik und den Parteien der Bevölkerung als das Kriterium nahegelegt wird, entlang dessen sie die Opfer zu würdigen hat.

Woher kommt das?

II.III. Über die Verweigerung bürgerlicher Existenz

Den Bewohnern der besetzten Gebiete wird durch Israel ihre bürgerliche Existenz verweigert, d.h. das, was Bürger als Normalität empfinden, die jeder in seinem Leben haben müsste – eine Familie, eine Arbeit, einen Lohn, eine gewisse Freizügigkeit, mal reisen usw.. Und das kommt auch unmittelbar im israelischen Vorgehen zum Ausdruck – Häuser werden gesprengt, Schulen und Krankenhäuser zerstört, Leute verschüttet usw. Das Urteil, dass eine bürgerliche Existenz jedem eigentlich zustünde, hat jeder Bürger und das wird bei Vielen durch das Kriegselend emotionalisiert, da leiden sie mit. Krieg ist der Zustand, in dem die bürgerliche Existenz komplett außer Kraft gesetzt wird, was in den besetzten Gebieten ein Dauerzustand ist und die Leute anlässlich des Krieges auf die Straße bringt. Dementsprechend fordern die Proteste mit „Free Palestine“ eine bürgerliche Emanzipation der Palästinenser und das schließt notwendig einen palästinensischen Staat ein, der aber nicht der Ausgangspunkt der Mobilisierung der Bürger ist, und somit nicht das, was die Proteste wollen. Stattdessen ist er die Bedingung ihrer Forderung nach einer bürgerlichen Existenz für die Palästinenser.

Was schreibt der Gegenstandpunkt?

„Die einen [Proteste] wie die anderen reproduzieren und propagieren so die staatliche Kampfräson der Kriegsparteien [..] Alle Seiten machen damit klar, dass es hier [..] um das Recht von Menschen in ihrer völkischen Besonderheit, also um das Menschenrecht auf einen Staat – auf einen unbedingt wehrhaften für den jüdischen, auf einen eigenen für den palästinensischen Menschenschlag. Wobei in beiden Fällen eine Besonderheit hinzu kommt, die dieses Recht nach Überzeugung seiner wirklichen wie ideellen Protagonisten besonders berechtigt macht: für Israel die eigentümlich offene Definition der staatsberechtigten Menschengemeinde, nicht irgendwo ortsansässig, sondern weltweit zerstreut zu sein und deswegen nur umso mehr eine lokale kriegsfeste Heimstatt zu brauchen; für das angestrebte Palästina der Status von aus ihrer angestammten Heimat Vertriebenen.” (GS 02/24, S.26)

Während der zionistische Standpunkt richtig zitiert und auch so vertreten wird, charakterisiert der Gegenstandpunkt die pro-palästinensischen Proteste falsch. Reproduziert wird der Gegensatz, soweit stimmt das; es ist aber selbst bei der Rede vom palästinensischen Volk dessen negative Bestimmung durch Israel, worauf Bezug genommen wird, da Israel diese Bevölkerung als sein „Nicht-Volk“ herstellt, woraus diese ihre Selbstauffassung als palästinensisches Volk macht. Die in Israel lebenden Drusen, Araber usw. werden als eben das (Drusen und Araber) bezeichnet. Wenn der Gegenstandpunkt seine eigenen Aussagen zum Volk ernst nimmt, sollte ihm das auch einleuchten: Die gleiche Rechtslage, das gleiche Verhältnis zur israelischen Herrschaft, wird in der Selbstauffassung als Palästinenser affirmiert (wobei da noch viel anzumerken wäre). So kommt die palästinensische Version der „staatsberechtigten Menschengemeinde“ zustande und so nehmen die Proteste auf sie Bezug. Das ist gerade nicht völkisch im Sinne einer vorstaatlichen Auffassung von Volk wie z.B. beim „jüdischen Volk“ im Zionismus. Für die Palästinenser fällt alles mit der Forderung nach einer bürgerlichen Existenz zusammen. Die ist ohne Staat nicht zu haben und das treibt sie auch um, ganz einfach, indem sie in ihren miesen Verhältnissen zu überleben versuchen und auf Bedingungen reflektieren, die ihre Interessen bräuchten.

II.IV. Über die Kritik an den Protesten für die Palästinenser.

Man kann die Proteste an ihren Erfolgsaussichten blamieren, wie es der Gegenstandpunkt zu tun scheint:

Praktisch leistet die aktive oder schweigende Beteiligung an dem Meinungsstreit über den Gaza-Krieg erst einmal nicht mehr und nicht weniger als die gedankliche Zuordnung der eigenen urteilsfähigen und -befugten Persönlichkeit zum fortschreitenden Kriegsgeschehen: Man hat eine Meinung. Angesichts des Grauens darf und soll es dabei aber nicht bleiben.

Das frei nachdenkende Subjekt ohne jeden Einfluss auf die Kriegsführer verlangt nach praktischer Einflussnahme. Und es findet Wege dahin. Zuerst und vor allem den der demonstrativen Aufforderung an die eigene Herrschaft, gegen die Gewaltaktionen der einen, der anderen oder gleich beider Seiten einzuschreiten. Die Einsicht, dass ohne Gewalt in der Staatenwelt gar nichts zu holen ist, geht hier einher mit der demokratischen Illusion, die eigene Staatsangehörigkeit, also der eigene Status als menschlicher Besitzstand einer weltpolitisch wirkungsvoll aktionsfähigen Macht, wäre – irgendwie, letztlich – das Gegenteil, nämlich der Besitz eines zwar kleinen, per Demonstration und Appell aber wirksam zu machenden Stücks Verfügungsgewalt über das Tun und Lassen der nationalen Staatsgewalt. Der wird einerseits die souveräne Macht, zugleich die willfährige Bereitschaft zugetraut, gegen kriegführende Gewalthaber die Stellungnahme durchzusetzen, mit der der empörte Bürger sich in seiner Meinungsbildung am besten fühlt. Aus der unausbleiblichen Enttäuschung folgt auf der nächsten Eskalationsstufe eine Polemik gegen die eigene Herrschaft und deren falsche Parteilichkeit. Das kämpferische Engagement, das da und überhaupt nichts weiter ausrichtet, sucht und findet sein Betätigungsfeld in der Auseinandersetzung mit den kongenialen Vertretern der Gegenseite [..]“ (GS 02/24, S. 28)

Daran stimmt nicht, dass es ausgeschlossen wäre, dass solche Proteste die Kalkulation des eigenen Staates mit Israel verändern. Das ist durchaus möglich, nur hängt, wie man z.B. dem letzten Punkt des vorherigen Abschnitts (I.VII.) entnehmen kann, die Messlatte dafür ziemlich hoch. Nichts weniger als die imperialistischen Interessen des eigenen Staates müssten diese Proteste relativieren und vorher die Versuche des so herausgeforderten Staates überwinden, die Proteste klein zu bekommen. Repressionen, die bereits bei einer, gemessen an diesem Zweck, lächerlichen Größenordnung, einsetzen.

Das ist aber auch nicht Zweck der Proteste. Das Stück „Verfügungsgewalt über das Tun und Lassen der nationalen Staatsgewalt“ buchstabiert sich anders. Es ist das Selbstverständnis als Wähler, das den möglichst zahlreichen Aufmarsch aus Sicht der Protestierenden zu einer Botschaft an die Regierung macht. Die Leute wähnen sich als ideelle Auftraggeber ihrer Regierung und wollen sie mit den Protesten an die aus ihrer Sicht richtige Interpretation des Regierungsauftrages erinnern, den sie ihr bei den letzten Wahlen ausgestellt haben. Die Notwendigkeit dafür protestieren zu müssen, könnte sie auf die Idee bringen, dass es dieses Auftragsverhältnis zwischen Wählern und Regierung nicht gibt.

Darüber hinaus versichern sich die Protestierenden gegenseitig ihrer Kritik und beglaubigen sie sich. „Du bist nicht allein !“, ist die beruhigende Nachricht, die sie sich wechselseitig mit ihrem Erscheinen auf den Demonstrationen übermitteln und weil eine Kritik an irgendeinem gesellschaftlichen Umstand nur eine Chance auf Realisierung hat, wenn sie von vielen geteilt wird, ist eine Demonstration mit möglichst vielen Teilnehmern auch ihre Beglaubigung. Man bestätigt sich gegenseitig die Kritik und den Standpunkt und feuert sich an, auch wenn man keine Idee davon hat, wie etwas daraus werden könnte. Eine „Demonstration“ unterstellt dabei allerdings die Vorstellung bei den Demonstranten, dass diese Veränderung eine (rituelle) Machtfrage sei. Nur deshalb bilden sie diese Art von Willenskontinuum und stellen es zur Schau. Der Sache nach äußern sie so ihre Betroffenheit und Ohnmacht. Statt die Gesellschaft zu ändern (was sie nicht können), ersetzen sie sie für die Dauer der Demonstration durch ihre Gemeinschaft.

Diese Reduktion der Proteste auf eine in diesem Fall palästinenserfreundliche Erfahrungsgemeinschaft, die der Welt in kritischer Distanz ein paar Slogans entgegen ruft, teilen die Demonstranten mit allen kritischen Bewegungen, deren Anliegen vom staatlichen Interesse abweicht und das werfen wir ihnen im Gegensatz zum Gegenstandpunkt nicht vor. Für diesen Vorwurf haben wir nur Unverständnis und fragen uns, was den Gegenstandpunkt denn in Sachen Erfolg von den Demonstranten unterscheidet?! Allerdings ist die Empfehlung, die man angesichts dieser Reduktion des demonstrierten Anliegens, eine bürgerliche Existenz für die Palästinenser zu fordern, aussprechen muss, sich die Sache und ihre Grundlagen zu erklären, die zu dieser Ohnmacht führt. Das beansprucht der vorliegende Text in Teilen zu leisten, auch wenn er sich kritisch mit dem Gegenstandpunkt bzw. Usama Taraben auseinandersetzt.

Da wäre noch eine Sache:

II.V. Warum ausgerechnet die Palästinenser?

Gewalt, Not und Elend gibt es auf der Welt zuhauf, Demonstrationen, die sich dessen annehmen und es in einigen Gegenden zu regelrechten Massenbewegungen bringen, eher selten. Es gibt sogar zu den Palästinensern ganz ähnlich gelagerte Fälle, wie den der Rohingya, die die UN als die „am stärksten verfolgte Minderheit der Welt“ (Wikipedia) einstufen und die kaum einen Bewohner insbesondere der westlichen Staaten in der Freizeit zu politischen Spaziergängen animiert. Auch die muslimische Gemeinde fühlt sich angesichts der Verfolgung ihrer Glaubensbrüder in Myanmar höchstens sporadisch herausgefordert, sich in politischer Anteilnahme zu versammeln. Es ist also zu erklären, weshalb ausgerechnet die Palästinenserfeindlichkeit Israels zu solchen Solidaritätswellen führt.

Im obigen Zitat macht der Gegenstandpunkt als Grund für die selektive Solidarität ein den Palästinensern vorenthaltenes “Menschenrecht auf Staat” aus: Weil die Palästinenser durch Israel in diesem “Menschenrecht auf Staat” beschnitten würden, rege sich die Solidarität mit ihnen, der idealistische Standpunkt der Protestierenden, dass noch jedes Volk einen Staat verdiene und die vehemente Verletzung dieses Rechts durch Israel, die seien der Grund, warum sich gerade bei Palästina signifkant größere Menschenmassen an den Protesten beteiligen.  


Beide Erklärungen, sowohl die aus einer puren Anteilnahme an Not und Elend als auch die Erklärung vom Gegenstandpunkt, sind ungenügend.

Der Verfolgung der Rohingya durch die Militärs in Myanmar fehlt es zunächst einmal an weltpolitischer Bedeutung und das wirft ein schlechtes Licht auf die öffentliche Anteilnahme, weil damit nämlich klar ist, dass es eben nicht das durch das völkische Vorgehen Israels oder Myanmars erzeugte Elend ist, welches die Proteste inspiriert, sondern dass politische Urteile dafür sorgen, dass ein großer Teil der muslimischen und westlichen Öffentlichkeit sich vom Leid der Palästinenser ergreifen lässt. Bei den Rohingya lassen sie es eben nicht zu. Diese Feststellung ist auch keine Aufforderung, sich vor jedem toten Menschen in Bestürzung zu üben – das würde angesichts des schieren Ausmaßes des durch die Staatenwelt erzeugten Elends die Lebenszeit jedes Menschen vollständig verbrauchen und sie über das damit verbundene ständige „Schlechtgefühl“ wahrscheinlich auch noch verkürzen. Mitleiden ist also ein sich unvermittelt einstellender und daher verständlicher, aber eben nicht besonders brauchbarer Umgang mit diesem Elend.  Da empfehlen sich eher Erklärung und Kritik, die dabei helfen wenigstens eine Vorstellung davon zu entwickeln, welche Ursachen Not und Elend haben und was sich ändern müsste, damit sie mal aufhören.

Aber auch die Sorge um ein idealistisches “Menschenrecht auf Staat” kann nicht der Grund für die selektive Parteinahme sein, weil dieses, wie bereits oben erwähnt, auch bei den Rohingya verletzt ist und gleichzeitig keine öffentliche Reaktion hervorruft.

Welche politischen Urteile sind also in der westlichen und muslimisch-arabischen Öffentlichkeit unterwegs, die die anlässlich des Gaza-Kriegs festzustellende massenhafte Anteilnahme auslösen?

Unmittelbar fällt bei dem Publikum, das in irgendeiner Form auf den arabisch-muslimischen Raum bezogen ist, die Relativierung der Ambitionen der arabischen Nationen durch Israel ein. Auf der Grundlage des arabischen Nationalismus bzw. der Bezugnahme auf die muslimische Welt haben diese Staaten versucht, ihre Reichweite (wenigstens dem Anspruch nach) auszudehnen und sind durch Israel darin beschnitten worden. Das führen sie in ihrem Nationalbewusstsein als eine Ansammlung von Demütigungen mit und jedes Mal, wenn Israel gegen die Palästinenser vorgeht, mobilisiert das in den arabischen Staaten die Bevölkerung. Das Gleiche gilt für die arabisch-muslimische Diaspora.

Unmittelbar klar ist das auch bei Migranten mit palästinensischen Wurzeln. Dort ist der Mobilisierungseffekt auf ihre direkte Betroffenheit z.B. über Verwandtschaftsverhältnisse zurückzuführen.

Das westliche, nichtmuslimische Publikum erkennt zu einem gewissen Teil links wie rechts im Vorgehen Israels einen Verstoß gegen ihre Vorstellung von einer gerechten Weltordnung. Sie machen den westlichen Imperialismus maßgeblich dafür verantwortlich und sehen sich deshalb als selbstbewusste Staatsbürger in der Pflicht, sich von diesen Machenschaften ihrer  Regierungen durch Protest zu distanzieren oder gar durch Besetzungen und Blockaden deren Unterstützung für Israel Schranken zu setzen. Sie messen ihre eigenen Regierungen am Ideal einer gerechten Weltordnung und stellen zu ihrem moralischen Ungemach fest: Die Staaten, von denen sie das moralisch Gute und Gebotene erwarten, sind für diese “furchtbaren” Resultate selbst zuständig. Dabei verkennen sie, dass die Weltordnung in diesem Fall eben so geht (siehe I.VII.). Israel ist ein integraler Teil der US-Aufsicht über die Staatenwelt und das gestattet ihm seine Ausnahmestellung (die Realisierung seines völkischen Siedlungsprogrammes unter dem Schutz der Vereinigten Staaten). Anstatt zur Kenntnis zu nehmen, welche Zwecke diese Ordnung heiligt und hier und da mal braucht, protestieren diese Teile der Öffentlichkeit für ihre ideale Weltordnung.
 

Und alle zusammen fordern ein bürgerliches Leben für die Palästinenser (siehe oben) und die Rohingya haben angesichts dieser Lage eben Pech, was die Anteilnahme an ihrem Problem betrifft. Sie kommen in dieser von Gerechtigkeitsstandpunkten durchsetzten idealen Sicht auf die Welt nicht vor. 

I. Terrorvernichtungsaktion vs. zionistische Staatsräson

I.I. Über den Terror der Hamas

Die Hamas überfällt am 07.10.2023 Israel, wobei ca. 1200 Israelis umkommen. Diese Aktion ist nicht auf einen militärischen Sieg der Hamas gegen Israel berechnet, dazu fehlen der Hamas die Mittel. Die Gewalt der Hamas ist also gemessen am militärischen Potential Israels ohnmächtige Gewalt, der es darum geht, Schrecken (lat. Terror) zu verbreiten und damit Rechtsansprüche zu bekräftigen und Botschaften zu senden. Dabei geht es der Hamas vor allem darum, Israel, der arabischen wie auch der restlichen Welt zu übermitteln, dass es einen palästinensischen Staatsgründungswillen überhaupt gibt und er Berücksichtigung verdient. Gegenüber Israel stellt sie klar, dass seine Verhinderung einer palästinensischen Staatlichkeit zur Konsequenz hat, mit Gewaltaktionen wie der am 07.10. und der damit verbundenen Störung des zivilen Lebens umgehen zu müssen. Das Vorgehen gegen israelische Zivilisten setzt dabei die Hoheit des israelischen Staates über seine Bürger demonstrativ außer Kraft und unterstreicht so den Rechtsstandpunkt der Hamas, dass deren Anwesenheit in Palästina grundsätzlich unberechtigt sei. Darüber hinaus will die Hamas wie alle Terroristen ihre Aktion als Fanal verstanden wissen. Die Bewohner der besetzten Gebiete will sie mit der punktuellen Relativierung israelischer Überlegenheit zum Widerstand aufrufen, Verbündete wie die Hisbollah sollen sich ihrem Kampf anschließen und die arabischen Staaten die Normalisierungspolitik ihrer Beziehungen zu Israel aufgeben.

Bei ihrer Aktion nimmt die Hamas 250 Geiseln, die sie als Verhandlungsmasse gegen Israel in Anschlag bringen will. Alles in allem ein Terroranschlag, wie er im Buche steht.

I.II. Über Staaten und ihre „Terroristen“

Die genannten sachlichen Bestimmungen charakterisieren den Überfall der Hamas lehrbuchreif als Terrorismus. Darüber hinaus hat die Bezichtigung des Terrorismus eine politische Konnotation: Wenn Staaten ihre Gegner des Terrorismus bezichtigen, dann geht es ihnen nicht um ein theoretisches Urteil, sondern darum, deren Gewalt als grundsätzlich unrechtmäßig zu kennzeichnen. Den so des Terrorismus „überführten“ Gegnern fehlt dann in der öffentlichen Wahrnehmung mit der Rechtmäßigkeit auch jeglicher Zweck ihrer Aktion, außer eben unrechtmäßige Gewalt auszuüben und darin ziemlich böse zu sein. Die Benennung eines Interesses der so identifizierten „Terroristen“ gilt als Versuch ihrer Entschuldigung. Jeder Erklärungsversuch ist Verharmlosung ihrer bösen Tat. Dem so konstruierten Feindbild entspricht selbstredend nur eine staatliche Maßnahme: Terrorvernichtung.

I.III. Über Israel und seine „Terrorvernichtungsaktion“

Die Gewalt der Hamas ist aus israelischer Perspektive auch ohne den Überfall vom 07.10.2023 grundsätzlich unrechtmäßig, da sie einen Staatswillen repräsentiert, der den israelischen Anspruch auf (wenigstens) ganz Palästina als sein Staatsgebiet ausschließt. Deshalb ist jeder palästinensische Staatswille, der sich als autonome Gewalt Israel entgegenstellt, aus israelischer Perspektive „Terrorismus“ und dementsprechend beschließt die israelische Regierung nach dem 07.10.2023 eine Vernichtungsaktion gegen die Hamas. Auffallen sollte hier, dass es der israelische Anspruch auf ganz Palästina ist, der die Gewalt der Hamas aus israelischer Perspektive jeglicher Rechtmäßigkeit beraubt. Die Terrorvernichtungsaktion ist also nichts weiter, als die Exekution dieses Programms, Kontrolle über den von der Hamas kontrollierten Teil Palästinas herzustellen und ihn in das israelische Staatsgebiet aufzunehmen. Dieser Annexion und der daraufhin folgenden zionistischen Kolonisierung stehen die von Israel ausgeschlossenen Bewohner Gazas im Weg, wofür so ziemlich alle israelischen Regierungsmitglieder mit dem gleichen Lösungsvorschlag aufwarten.

Usama äußert im Stream, dass er das nicht wahrgenommen habe, weshalb wir mal ein Zitat von Netanyahu, der ja auch im Gegenstandpunkt zitiert wird, als eines von vielen Beispielen aufführen wollen:

As far as the State of Israel is concerned, there is no obstacle for the Gazans to leave, maybe even the port they are building could be used for this, but there are no countries in the world that are ready to receive them.“ (B.Netanyahu, 19.03.2024)

Dieses einfache Sender-Receiver-Modell für Gazawis (Israel → other countries of the world) ist der Lösungsvorschlag der israelischen Regierung für das Palästinenserproblem in Gaza. Das hat Usama im Stream nicht überzeugt, weshalb wir uns die Frage erlauben, was an dem Zitat von B. Netanyahu im Gegenstandpunkt überzeugender ist? Die Person des Absenders kann es jedenfalls nicht sein, da sie ein und dieselbe ist.

Usama weiß natürlich, dass es solche Äußerungen von so ziemlich allen Regierungsmitgliedern in Israel gibt und ist auch darauf eingegangen. Nach seiner Auffassung handelt es sich dabei um eine Fraktion der israelischen Politik, um Kräfte, die da irgendwo unterwegs seien. Nur stellen diese Kräfte eben die Regierung. Was er damit nachvollzieht, ist die Trennung der ethnischen Vertreibung vom israelischen Staat, die Israel spätestens seit 1967 praktiziert: Der israelische Staat überlässt den Teil seines Staatsprogramms den Siedlern, die im Schutz seines Besatzungsregimes die Landnahme vorantreiben. Das sind also keine „Fraktionen“ oder „Kräfte“, sondern private Aktivisten des israelischen Staates, die unter seinem Schutz sein Staatsprogramm exekutieren und in der zionistischen Diaspora für ständigen Siedlernachschub werben. Landnahme braucht nämlich Leute, die sie exekutieren, welche zu einem größeren Teil in der Diaspora rekrutiert werden. Die Siedler als etwas von Israel Getrenntes zu betrachten, affirmiert die Praxis ethnischer Vertreibung, wie sie der israelische Staat organisiert und verstanden haben will.

I.IV. Über Israels Souveränität

Das alles findet Usama nach eigener Aussage in Gaza nicht vor. Dort soll es nur um eine reine Terrorvernichtungsaktion gehen, um die Herstellung der Souveränität Israels, die durch die Hamas herausgefordert worden ist. Er begreift (im Gegensatz zum vorigen Abschnitt) die Terrorvernichtungsaktion als etwas vom israelischen Staatsprogramm Verschiedenes und streicht damit das Kriterium durch, entlang dessen Staaten Terroristen identifizieren. Es ist eben ihre Rechtslage, es sind ihre Zwecke, die Gewalt als unrechtmäßig und damit terroristisch erscheinen lassen, d.h. es ist das Verhältnis des Inhalts der sich gewaltsam äußernden Bewegung zum geltenden Recht bzw. den Zwecken des jeweiligen Staates. Erkennt der Staat keinerlei erlaubter Betätigung würdiges Interesse in der Gewalt gegen sich (wie im Fall eines palästinensischen Staatswillens), schließt er auf Unrechtmäßigkeit bzw. Terrorismus.  Davon sieht Usama programmatisch ab, wenn er über Souveränität an sich redet; er abstrahiert damit von allem, was den Inhalt israelischer Souveränität ausmacht.

Die Kritiker seiner Totalabstraktion identifiziert er mit einer Verschwörungstheorie. Sie würden behaupten, es ginge bei der Terrorvernichtungsaktion eigentlich um ethnische Vertreibung. Er unterstellt ihnen also die Abstraktion vom israelischen Kriegsziel, die Hamas zu vernichten. Die Kritik an ihm ist aber, dass er verkennt, dass die Terrorvernichtungsaktion die Exekution des israelischen Staatsprogramms (und damit ethnische Vertreibung) ist. Die Terrordefinition und Vernichtung ist vom israelischen Staatsprogramm nicht zu trennen und das erklärt eben einen großen Teil des Vorgehens der IDF in Gaza. Für Usama ist das zionistische Programm und seine Umsetzung dagegen nur ein von der Erklärung getrenntes Add-on, das nicht vergessen werden sollte, weshalb es am Ende des Gesprächs auch noch vorkommt. Diese Trennung macht uns in Bezug auf den Erklärungswert seiner Ausführungen misstrauisch und wenn diese zu den „heiligen Kühen“ gehört, die er schlachten wollte, dann bleiben wir lieber ihre Hirten.

I.V. Über Usamas Idee von der israelischen Terrorvernichtungsaktion

Usama steht dann vor dem theoretischen Problem, irgendwie das Vorgehen der IDF gegen alle Bewohner Gazas, das Aushungern der Gazawis usw. aus seiner Vorstellung der Terrorvernichtungsaktion abzuleiten. Wir haben das Problem nicht, weil sich das Vorhaben aus dem israelischen Staatsprogramm ergibt, das in Gaza durchgesetzt wird, wollen seine Idee aber dennoch würdigen.

Zutreffend stellt er fest, dass sich die Hamas durch ihre Herrschaft über den Gazastreifen eine soziale Basis geschaffen hat und sich damit von einer Terrororganisation, die z.B. auf der sozialen Basis eines von ihr bekämpften Staates operiert, unterscheidet. Im letzten Fall sind die Bürger des Staates keine oder nur sehr bedingt soziale Basis der Terrorgruppe. Nach Usamas Auffassung nimmt der israelische Staat die Bevölkerung Gazas als soziale Basis des alternativen Staatswillens, repräsentiert durch die Hamas, wahr. Daher schließt er sie in seinen Vernichtungszweck ein, um auszuschließen, dass ein Standpunkt, wie die Hamas ihn vertritt, jemals noch gegen ihn antreten könne. Das wollen wir ihm überhaupt nicht bestreiten, da genau das der Zweck ist, der dem israelischen Staatsprogramm entspricht, da Israel die Terrordefinition ja genau aus diesem ableitet. Alle Gazawis sind Terroristen, so das israelische Verdikt. Als Herrschaft (Hamas) repräsentieren sie aus israelischer Perspektive einen terroristischen Willen und als soziale Basis sind sie der terroristische Sumpf, der sich nicht austrocknen lässt, ohne dass man sich ihrer entledigt. 

Widersprechen müssen wir Usama darin, dass das, im Gegensatz zu unseren Ausführungen, die Erklärung des israelischen Vorgehens in Gaza sei. Nein, er führt nur aus, wie dem zionistischen Staat sein Programm an den Gazawis erscheint. Die Praxis der Niederhaltung und Blockade der Gazawis sorgt für diese Perspektive des israelischen Staates. Somit überzeugt der israelische Staat sich durch seine eigenen Werke davon, dass ein palästinensischer Staat bzw. eine Nachbarschaft mit den Palästinensern in Palästina ein Ding der Unmöglichkeit ist. Er beschließt, dass die dort ansässige Bevölkerung als sein Staatsvolk ungeeignet ist. Er sperrt sie ein, weil und solange ihre Vertreibung für ihn politisch nicht opportun ist und sie organisiert eine Gegengewalt gegen ihn, die sein Unverträglichkeitsurteil mit diesem aus seiner Sicht falschen Volk auf der Ebene direkter gewaltsamer Konfrontation reproduziert. Es ist also nur eine Verwandlung und Eskalation des zionistischen Staatsprogramms, die Usama beschreibt.

I.VI. Über Israels Schranken

Usama zum Sechstagekrieg:

„[Den Sinai] hat es im Handstreich in diesem berühmten sechs Tage Krieg besetzt und dann hat es frei seinen eigenen Entscheidungen folgend entschieden, das braucht’s nicht, damit kaufe ich den Ägyptern die Anerkennung ihrer totalen Unterlegenheit uns gegen oder ja Israel gegenüber ab und bewege sie zur offiziellen Aufgabe jeder feindlichen Ambition. Derselben Logik folgend die Behandlung des Gazastreifens.”

Den Sinai hat es gebraucht – eben dazu, Ägypten zum Friedensschluss (12 Jahre später) zu erpressen. Es ist kein Beweis besonderer Souveränität, wenn Israel sich dagegen entscheidet, den Sinai als Siedlungsgebiet zu nutzen. Die einzige Sache, die man feststellen kann, ist, dass wenn in Folge eines Krieges ein Staat das Territorium eines anderen besetzt, dieser gegen den unterlegenen Staat Souveränität über das besetzte Territorium ausübt. Israel war schon kurz nach dem Sechstagekrieg klar, dass es nicht in der Lage ist, eine Annexion des Sinai (und des Golan) durchzusetzen. Ägypten hat auch nicht seine totale Unterlegenheit anerkannt, sondern es hat mit dem Friedensschluss Israel anerkannt – ein Tauschgeschäft, das Israel unmittelbar nach dem Krieg Ägypten und Syrien (Golan) angeboten hat und das von Ägypten 12 Jahre später angenommen worden ist, was wesentlich auf den Blockwechsel Ägyptens zurückzuführen ist (von der SU zu den USA). Dass der Gaza-Streifen derselben Logik folge, ist falsch. Mit seiner Aufgabe (an die PLO!?) hätte Israel überhaupt nichts für sein Staatsprogramm tun können, weshalb es ihn auch nicht aufgegeben, sondern angefangen hat, ihn genau wie die Westbank zu kolonisieren und dort Siedlungen zu errichten.

Was auch überhaupt nicht stimmt, ist, dass Israel sich zum Sinai, dem Gaza-Streifen usw. „frei seinen Entscheidungen folgend“ verhalten würde. Und Usama meint hier „frei“ im Sinne von unbeschränkt. Das kann kaum ein Staat und Israel schon 3x nicht. Den Artikeln im Gegenstandpunkt kann er entnehmen, dass Israel der (wahrscheinlich) einzige Staat der Welt ist, über dessen (beanspruchtes) Staatsterritorium es eine äußere, internationale Rechtslage gibt, die von den maßgeblichen Staaten der Welt getragen wird (die UN-Resolutionen, in denen festgeschrieben wird, dass das Mandatsgebiet in einen arabischen und einen jüdischen Staat aufzuteilen ist). Das sieht nicht wie eine besondere Unbeschränktheit, sondern wie eine zusätzliche Beschränkung aus, mit der Israel umzugehen hat.

Diese Beschränkung sorgt dafür, dass jeder größere Konflikt, den Israel im Zuge der Durchsetzung seines Landnahmeprogramms eingeht, nahezu umgehend im Weltsicherheitsrat landet und so das Interesse der sich dazu berufen fühlenden Staaten der Welt auf sich zieht. Das Vorgehen Myanmars gegen die Rohingya zieht bei weitem nicht das gleiche Interesse der Staatenwelt auf sich, wie der jetzige oder die vorangegangenen Gaza-Kriege. Das liegt eben daran, dass der Umstand, dass es da einen äußeren Rechtsstandpunkt gibt, die Regelungskompetenz der Staaten herausfordert, die sich als Sachwalter dieses Rechts auffassen.

Israel ist ohne Zweifel eine Regionalmacht, aber den Staaten, die gegen die von Israel geschaffene Tatsache, dass es inzwischen das ganze ehemalige Mandatsgebiet beherrscht, den Rechtsstandpunkt hochhalten, dass es einen Palästinenserstaat geben muss, reicht es weder ökonomisch noch militärisch das Wasser und das heißt nichts anderes als dass diese seine Souveränität beschränken. Sie lassen die Vertreibung der Palästinenser einfach nicht umstandslos zu und unterhalten zusätzlich noch das UNRWA, das dafür sorgt, dass die menschliche Basis eines Palästinenserstaates innerhalb und außerhalb des Mandatsgebietes erhalten wird. Israels militärische Kampagnen unterwerfen sie ihrem Vorbehalt, gestehen Israel Titel zu, unter denen es vorgehen darf (Terrorbekämpfung) und messen es gleichzeitig an ihrer Auffassung von Terror, die eben von der israelischen abweicht, da sie die Gazawis nicht mit einem Terrorsumpf gleichsetzen, sondern unter ihnen auch „unschuldige Zivilisten“ ausmachen können, die das Material ihres Standpunkts sind, dass es irgendwann mal einen palästinensischen Staat geben sollte. Daraus ergibt sich dann wieder ihre Mahnung an Israel, sich doch an die Terrorbekämpfung gemäß ihrer Lizenz zu halten.

Umgekehrt muss sich Israel mit einem großen Teil der Staaten ins Benehmen setzen, die anlässlich seiner Expeditionen gegen die Palästinenser und auch bezüglich des Umgangs mit ihnen zwischen seinen Feldzügen Regelungsbedarf anmelden, wann immer sie eine bedenkliche Lage der Palästinenser ausmachen, da es ihr Geschöpf ist: Israel braucht seine Garantiemächte (USA, Deutschland, …), um seine Staatlichkeit überhaupt in der feindlichen Umgebung, die es durch sein Siedlungsprogramm geschaffen hat, durchsetzen und behaupten zu können.

All die oben genannten Rücksichten, die Israel zu nehmen hat, sorgen dann für das Erscheinungsbild, welches das zionistische Kolonisierungsprojekt abgibt. Israel trennt die Landnahme von sich ab und überlässt sie den Siedlern, schafft Rechtslagen mit Rücksicht auf das Völkerrecht, das, wann immer es seine Garantiemächte für nötig halten, gegen Israel in Anschlag gebracht wird, betreibt Lobbyarbeit in den entsprechenden Staaten, versucht ihre Öffentlichkeit zu beeinflussen, pflegt seine Diaspora und widersetzt sich den Forderungen sowohl seiner Verbündeten als auch der in der UN versammelten Staatenwelt so gut es das kann.

I.VII. Über Israels Freiheiten

Dabei fällt auf, dass sich Israel in seiner Widerständigkeit oft erfolgreich auch gegen die USA behaupten kann und sich nicht in seinem – schon auf deren Reaktion zugeschnittenen – Vorgehen gegen die Palästinenser beschränken lässt. Der Zuschnitt besteht dabei im durch die Gestaltung des Vorgehens gemachten Angebot an seine Garantiemächte, die israelische Rücksichtslosigkeit gegen die Palästinenser doch als Entsprechung zu ihrem Rechtsstandpunkt zu interpretieren. So werden die Gazawis nicht direkt vertrieben, sondern durch die vollständige Zerstörung ihrer Lebensgrundlage wird Israels Programm, sie nicht mehr in Gaza haben zu wollen, als Teil des von seinen Garantiemächten abgesegneten Antiterrorkampfes umgesetzt. Israels Widerstand gegen die Beschränkung, die seine Verbündeten ihm auferlegen wollen, findet dann im Streit darum statt, ob wirklich alle Zerstörungen und Opfer, die Israel als Teil seines ethnischen Vertreibungsprogrammes in Gaza verursacht, auch zur Bekämpfung der Hamas notwendig seien. Es beharrt auf der militärischen Notwendigkeit der Zerstörungen, wahrt so den Schein ihnen zu entsprechen und eröffnet seinen Verbündeten die Kalkulation, wieviel ihnen denn die Einhegung israelischer Intransignenz und Rücksichtslosigkeit gegen die Palästinenser Wert ist.

Auf der Habenseite kann Israel bei dieser Wertermittlung gegenüber seinen Verbündeten seinen Status als major non-NATO ally verbuchen. Diesen Status verleihen die USA jenen Staaten, die sie in ihr Aufsichtsregime über die Staatenwelt als mehr oder weniger zu NATO-Verbündeten gleichgestellte Staaten einbinden. Das entschränkt und privilegiert Israel gegenüber den Staaten der Region. Es handelt daher nicht nur Kraft eigener Machtvollkommenheit, sondern kann sich dabei auf sein besonderes Bündnis mit den USA in Sachen Beaufsichtigung der Staatenwelt berufen, das ihm Zugang zu militärischen Spitzenprodukten der US-Rüstungsindustrie verschafft, die israelischen Rüstungsfirmen berechtigt, sich an militärischen Ausschreibungen der USA zu beteiligen und Israel berechtigt, an militärischen Kampagnen der USA teilzunehmen. Es ist also nicht nur eine rechtliche Einbindung in die US-Weltaufsicht, die mit diesem Status verbunden ist, sondern Israel wird damit sowohl militärisch als auch ökonomisch in die US-Weltherrschaft integriert.

Das ist das Pfund, mit dem Israel wuchern kann und das die Grundlage abgibt, auf der sich die USA zu den israelischen Kampagnen zur Durchsetzung seiner völkischen Staatsräson stellen. Das verdeutlicht, was die USA aufs Spiel setzen, wenn sie, wie von den Protesten gefordert, ihre Waffenlieferungen an Israel einstellen oder zurückhalten, weshalb das nie ohne Weiteres – schon gar nicht vollständig und meistens eher symbolisch – stattfindet und Israels zionistische Brandrodung des Gaza-Streifens von den USA zunächst mit einer Lizenz zur Terrorvernichtung begleitet und von einem Aufmarsch im Nahen Osten flankiert worden ist.

Die USA (und ihre Verbündeten) haben dabei das Dilemma, dass ihr Verbündeter mit seinem Programm ethnischer Vertreibung und militärischer Vorwärtsverteidigung nach Lesart der Staatenwelt gegen das verstößt, was nach ihrer Interpretation des Völkerrechts zwischen Staaten stattfinden sollte. Diese Ausnahme vom Völkerrecht, die Israel für sich beansprucht ist eine Belastung für die US-Weltaufsicht, die Israels Vorgehen daher bei allen seinen Kampagnen wo nötig um eine moralische – jedenfalls nie substanzielle – Kampagne für seine Opfer ergänzt, um so imperialistische Verwerfungen in der Region und weltweit zu moderieren.

II. Der Gegenstandpunkt und die Proteste zum Gaza Krieg 

II.I. Über Opfer und Parteilichkeit (1)

[..] weil die vielen, eindringlich publizierten Opfer doch niemanden kaltlassen können. Schon gar nicht die jeweils vorgeführten Opfer das jeweils angesprochene Publikum: frohgemute Party-

gäste, Menschen wie ich und du, in guter Stimmung unversehens überfallen, vergewaltigt, entführt, umgebracht, auf der einen Seite; auf der anderen Seite Familien mit Kindern, die aus ihren ohnehin elenden Lebensverhältnissen herausgebombt und in eine Hungersnot gestürzt werden, mit Verwandten in demokratisch akzeptierten Communitys hierzulande. [..] Nur: ein Kriterium dafür, welche Opfer die jeweils andere Seite zu Tätern machen, bekommt der kundige Moralismus damit nicht wirklich an die Hand. All die engagierten Debatten, die, teilweise unter gewissen moralischen Vorbehalten, Heimtücke gegen Opferzahlen und umgekehrt abwägen, belegen tatsächlich nur, dass die grauenhaften Fakten, die überzeugen sollen, nur für schon Überzeugte zählen; nicht als Argumente, sondern als Belege dafür, die richtige Seite gewählt zu haben.“ (GS 04/24 S.25)

Dass es sich so nicht verhalten kann, könnte dem Gegenstandpunkt daran auffallen, dass der Verweis auf die Opfer Teil der Kriegspropaganda ist und damit sehr wohl bezweckt ist, Parteilichkeit herzustellen. Das Argument, das dem damit konfrontierten Publikum einleuchten soll, ist, dass der Umgang, den der (in der Propaganda unterstellte) Feind mit Kindern, Zivilisten, Kriegsgefangenen usw. pflegt, deren bürgerlicher Existenz nicht angemessen ist, weshalb man gegen ihn Partei ergreifen soll. Für den Schöpfer der Propaganda steht die Parteilichkeit fest; er illustriert seinen Standpunkt damit – aber eben, weil er das Publikum für seinen Standpunkt einnehmen will. Könnte das der Verweis auf die Kriegsopfer nicht leisten, wären sie kein Material der Kriegspropaganda.

Wie funktioniert diese Überzeugungsarbeit bei den Adressaten? Die Grausamkeiten des Krieges werden ihnen als solche des Feindes vorgeführt; der Feind ist also bei der ganzen Übung als Prämisse unterstellt und die Opfer sollen das Publikum zur Übernahme der Feindschaftserklärung bewegen. Dabei sind sie angehalten, das Schicksal der Opfer ideell zu teilen und so den Feind als solchen zu erfahren. Das Urteil, das so über den Feind entsteht, ist ein emotionales Urteil, d.h. ein so überzeugter Zeitgenosse fühlt die Feindschaft. Er verbindet das Gefühl, dass man beim Anblick der Grausamkeiten des Krieges hat mit der Feindschaftserklärung.

Deshalb überbieten sich die PR-Abteilungen der Kriegsparteien in der zielgerichteten Zurschaustellung von Kriegsopfern, von denen manchmal nicht einmal Bilder, sondern nur Erzählungen präsentiert werden. Offenbar reicht das schon, um die Feindschaft als Gefühl im interessierten Publikum zu verankern, weil das Kopfkino der Adressaten die fehlenden Bilder (und u.U. überhaupt die fehlenden Opfer) ersetzt.

Dabei kann sowohl die Abscheu der Ausgangspunkt der Übernahme der Feindschaft sein als auch die Feindschaft durch die sinnliche Erfahrung der Opfer emotionalisiert werden. Es sind eben zwei voneinander getrennte Bewusstseinsakte, die in der gefühlten Feindschaft vereint werden. Auch deshalb wird der Zusammenschluss beider Momente nicht dem Zufall überlassen, sondern öffentlich angeleitet und betreut.

Obigem Zitat ist z.B. zu entnehmen, dass auch der Verfasser des Artikels ‚Grauen‘ empfindet. Für ihn macht das seine Kritik an den Verhältnissen einen Moment lang zu einem emotionalen Urteil. Ihn graut es und er weiß, woher das Grauenhafte kommt, legt es beispielsweise dem Nationalstaat zur Last und darin ist er frei. Er kann mit diesem Grauen auch das Urteil fühlen, dass der Mensch des Menschen Wolf sei. Insofern sind die Opfer einerseits nur ein Argument für Überzeugte (also keines), andererseits sehr wohl eine Gelegenheit für jeden, welche Überzeugung auch immer an ihnen zu erfahren oder dem Grauen eine Überzeugung beizustellen und Partei zu ergreifen. Darum wird dann in der Öffentlichkeit gerungen, das ist der Inhalt dieser heftigen Debatten. Um die Ursache der vielen Opfer wird ausdrücklich nicht gestritten, von der ist abstrahiert, wenn es darum geht, jemanden – nämlich den Feind – zum Verantwortlichen zu machen.

II.II. Über Opfer und Parteilichkeit (2)

Nach dem oben Gesagten sollte klar sein, dass der Krieg in Gaza an Standpunkten und Parteilichkeit zunächst nur das reproduziert, was es ohnehin vorher in der Gesellschaft schon gab – nur eben emotionalisiert, als unvermittelt gefühlte Parteinahme. Die Präsentation des Kriegselends drängt aber auch vorher davon unberührte Teile der Gesellschaft dazu, sich zu positionieren, ganz einfach, indem es vom Staat auf die Tagesordnung gesetzt und durch die Medien der Öffentlichkeit vorgeführt wird. Die Medien beginnen bei der Emotion, die man bei der Kenntnisnahme des Elends empfindet. Dem wird für gewöhnlich gleich das Kriterium beigestellt, entlang dessen man sich davon erschüttern lassen soll: das staatliche Interesse. Dabei fällt selbst bei z.B. nahezu vollständiger Parteinahme der Bevölkerung für den deutschen Staat auf, dass sich das deutsch-israelische Verhältnis nicht in der Parteinahme der Bürger abbildet, sondern diese in größerer Zahl dazu tendieren, Israel und seine Besatzung für die Opfer verantwortlich zu machen und mit den Palästinensern zu leiden. Die deutsche Staatsräson bezüglich Israel ist dagegen etwas, das eher von der Politik und den Parteien der Bevölkerung als das Kriterium nahegelegt wird, entlang dessen sie die Opfer zu würdigen hat.

Woher kommt das?

II.III. Über die Verweigerung bürgerlicher Existenz

Den Bewohnern der besetzten Gebiete wird durch Israel ihre bürgerliche Existenz verweigert, d.h. das, was Bürger als Normalität empfinden, die jeder in seinem Leben haben müsste – eine Familie, eine Arbeit, einen Lohn, eine gewisse Freizügigkeit, mal reisen usw.. Und das kommt auch unmittelbar im israelischen Vorgehen zum Ausdruck – Häuser werden gesprengt, Schulen und Krankenhäuser zerstört, Leute verschüttet usw. Das Urteil, dass eine bürgerliche Existenz jedem eigentlich zustünde, hat jeder Bürger und das wird bei Vielen durch das Kriegselend emotionalisiert, da leiden sie mit. Krieg ist der Zustand, in dem die bürgerliche Existenz komplett außer Kraft gesetzt wird, was in den besetzten Gebieten ein Dauerzustand ist und die Leute anlässlich des Krieges auf die Straße bringt. Dementsprechend fordern die Proteste mit „Free Palestine“ eine bürgerliche Emanzipation der Palästinenser und das schließt notwendig einen palästinensischen Staat ein, der aber nicht der Ausgangspunkt der Mobilisierung der Bürger ist, und somit nicht das, was die Proteste wollen. Stattdessen ist er die Bedingung ihrer Forderung nach einer bürgerlichen Existenz für die Palästinenser.

Was schreibt der Gegenstandpunkt?

„Die einen [Proteste] wie die anderen reproduzieren und propagieren so die staatliche Kampfräson der Kriegsparteien [..] Alle Seiten machen damit klar, dass es hier [..] um das Recht von Menschen in ihrer völkischen Besonderheit, also um das Menschenrecht auf einen Staat – auf einen unbedingt wehrhaften für den jüdischen, auf einen eigenen für den palästinensischen Menschenschlag. Wobei in beiden Fällen eine Besonderheit hinzu kommt, die dieses Recht nach Überzeugung seiner wirklichen wie ideellen Protagonisten besonders berechtigt macht: für Israel die eigentümlich offene Definition der staatsberechtigten Menschengemeinde, nicht irgendwo ortsansässig, sondern weltweit zerstreut zu sein und deswegen nur umso mehr eine lokale kriegsfeste Heimstatt zu brauchen; für das angestrebte Palästina der Status von aus ihrer angestammten Heimat Vertriebenen.” (GS 02/24, S.26)

Während der zionistische Standpunkt richtig zitiert und auch so vertreten wird, charakterisiert der Gegenstandpunkt die pro-palästinensischen Proteste falsch. Reproduziert wird der Gegensatz, soweit stimmt das; es ist aber selbst bei der Rede vom palästinensischen Volk dessen negative Bestimmung durch Israel, worauf Bezug genommen wird, da Israel diese Bevölkerung als sein „Nicht-Volk“ herstellt, woraus diese ihre Selbstauffassung als palästinensisches Volk macht. Die in Israel lebenden Drusen, Araber usw. werden als eben das (Drusen und Araber) bezeichnet. Wenn der Gegenstandpunkt seine eigenen Aussagen zum Volk ernst nimmt, sollte ihm das auch einleuchten: Die gleiche Rechtslage, das gleiche Verhältnis zur israelischen Herrschaft, wird in der Selbstauffassung als Palästinenser affirmiert (wobei da noch viel anzumerken wäre). So kommt die palästinensische Version der „staatsberechtigten Menschengemeinde“ zustande und so nehmen die Proteste auf sie Bezug. Das ist gerade nicht völkisch im Sinne einer vorstaatlichen Auffassung von Volk wie z.B. beim „jüdischen Volk“ im Zionismus. Für die Palästinenser fällt alles mit der Forderung nach einer bürgerlichen Existenz zusammen. Die ist ohne Staat nicht zu haben und das treibt sie auch um, ganz einfach, indem sie in ihren miesen Verhältnissen zu überleben versuchen und auf Bedingungen reflektieren, die ihre Interessen bräuchten.

II.IV. Über die Kritik an den Protesten für die Palästinenser.

Man kann die Proteste an ihren Erfolgsaussichten blamieren, wie der Gegenstandpunkt das tut:

Praktisch leistet die aktive oder schweigende Beteiligung an dem Meinungsstreit über den Gaza-Krieg erst einmal nicht mehr und nicht weniger als die gedankliche Zuordnung der eigenen urteilsfähigen und -befugten Persönlichkeit zum fortschreitenden Kriegsgeschehen: Man hat eine Meinung. Angesichts des Grauens darf und soll es dabei aber nicht bleiben.

Das frei nachdenkende Subjekt ohne jeden Einfluss auf die Kriegsführer verlangt nach praktischer Einflussnahme. Und es findet Wege dahin. Zuerst und vor allem den der demonstrativen Aufforderung an die eigene Herrschaft, gegen die Gewaltaktionen der einen, der anderen oder gleich beider Seiten einzuschreiten. Die Einsicht, dass ohne Gewalt in der Staatenwelt gar nichts zu holen ist, geht hier einher mit der demokratischen Illusion, die eigene Staatsangehörigkeit, also der eigene Status als menschlicher Besitzstand einer weltpolitisch wirkungsvoll aktionsfähigen Macht, wäre – irgendwie, letztlich – das Gegenteil, nämlich der Besitz eines zwar kleinen, per Demonstration und Appell aber wirksam zu machenden Stücks Verfügungsgewalt über das Tun und Lassen der nationalen Staatsgewalt. Der wird einerseits die souveräne Macht, zugleich die willfährige Bereitschaft zugetraut, gegen kriegführende Gewalthaber die Stellungnahme durchzusetzen, mit der der empörte Bürger sich in seiner Meinungsbildung am besten fühlt. Aus der unausbleiblichen Enttäuschung folgt auf der nächsten Eskalationsstufe eine Polemik gegen die eigene Herrschaft und deren falsche Parteilichkeit. Das kämpferische Engagement, das da und überhaupt nichts weiter ausrichtet, sucht und findet sein Betätigungsfeld in der Auseinandersetzung mit den kongenialen Vertretern der Gegenseite [..]“ (GS 02/24, S. 28)

Daran stimmt nicht, dass es ausgeschlossen wäre, dass solche Proteste die Kalkulation des eigenen Staates mit Israel verändern. Das ist durchaus möglich, nur hängt, wie man z.B. dem letzten Punkt des vorherigen Abschnitts (I.VII.) entnehmen kann, die Messlatte dafür ziemlich hoch. Nichts weniger als die imperialistischen Interessen des eigenen Staates müssten diese Proteste relativieren und vorher die Versuche des so herausgeforderten Staates überwinden, die Proteste klein zu bekommen. Repressionen, die bereits bei einer, gemessen an diesem Zweck, lächerlichen Größenordnung, einsetzen.

Das ist aber auch nicht Zweck der Proteste. Das Stück „Verfügungsgewalt über das Tun und Lassen der nationalen Staatsgewalt“ buchstabiert sich anders. Es ist das Selbstverständnis als Wähler, das den möglichst zahlreichen Aufmarsch aus Sicht der Protestierenden zu einer Botschaft an die Regierung macht. Die Leute wähnen sich als ideelle Auftraggeber ihrer Regierung und wollen sie mit den Protesten an die aus ihrer Sicht richtige Interpretation des Regierungsauftrages erinnern, den sie ihr bei den letzten Wahlen ausgestellt haben. Die Notwendigkeit dafür protestieren zu müssen, könnte sie auf die Idee bringen, dass es dieses Auftragsverhältnis zwischen Wählern und Regierung nicht gibt.

Darüber hinaus versichern sich die Protestierenden gegenseitig ihrer Kritik und beglaubigen sie sich. „Du bist nicht allein !“, ist die beruhigende Nachricht, die sie sich wechselseitig mit ihrem Erscheinen auf den Demonstrationen übermitteln und weil eine Kritik an irgendeinem gesellschaftlichen Umstand nur eine Chance auf Realisierung hat, wenn sie von vielen geteilt wird, ist eine Demonstration mit möglichst vielen Teilnehmern auch ihre Beglaubigung. Man bestätigt sich gegenseitig die Kritik und den Standpunkt und feuert sich an, auch wenn man keine Idee davon hat, wie etwas daraus werden könnte. Eine „Demonstration“ unterstellt dabei allerdings die Vorstellung bei den Demonstranten, dass diese Veränderung eine (rituelle) Machtfrage sei. Nur deshalb bilden sie diese Art von Willenskontinuum und stellen es zur Schau. Der Sache nach äußern sie so ihre Betroffenheit und Ohnmacht. Statt die Gesellschaft zu ändern (was sie nicht können), ersetzen sie sie für die Dauer der Demonstration durch ihre Gemeinschaft.

Diese Reduktion der Proteste auf eine in diesem Fall palästinenserfreundliche Erfahrungsgemeinschaft, die der Welt in kritischer Distanz ein paar Slogans entgegen ruft, teilen die Demonstranten mit allen kritischen Bewegungen, deren Anliegen vom staatlichen Interesse abweicht und das werfen wir ihnen im Gegensatz zum Gegenstandpunkt nicht vor. Für diesen Vorwurf haben wir nur Unverständnis und fragen uns, was den Gegenstandpunkt denn in Sachen Erfolg von den Demonstranten unterscheidet?! Allerdings ist die Empfehlung, die man angesichts dieser Reduktion des demonstrierten Anliegens, eine bürgerliche Existenz für die Palästinenser zu fordern, aussprechen muss, sich die Sache und ihre Grundlagen zu erklären, die zu dieser Ohnmacht führt. Das beansprucht der vorliegende Text in Teilen zu leisten, auch wenn er sich kritisch mit dem Gegenstandpunkt bzw. Usama Taraben auseinandersetzt.

Da wäre noch eine Sache:

II.V. Warum ausgerechnet die Palästinenser?

Gewalt, Not und Elend gibt es auf der Welt zuhauf, Demonstrationen, die sich dessen annehmen und es in einigen Gegenden zu regelrechten Massenbewegungen bringen, eher selten. Es gibt sogar zu den Palästinensern ganz ähnlich gelagerte Fälle, wie den der Rohingya, die die UN als die „am stärksten verfolgte Minderheit der Welt“ (Wikipedia) einstufen und die kaum einen Bewohner insbesondere der westlichen Staaten in der Freizeit zu politischen Spaziergängen animiert. Auch die muslimische Gemeinde fühlt sich angesichts der Verfolgung ihrer Glaubensbrüder in Myanmar höchstens sporadisch herausgefordert, sich in politischer Anteilnahme zu versammeln. Es ist also zu erklären, weshalb ausgerechnet die Palästinenserfeindlichkeit Israels zu solchen Solidaritätswellen führt.

Im obigen Zitat macht der Gegenstandpunkt als Grund für die selektive Solidarität ein den Palästinensern vorenthaltenes “Menschenrecht auf Staat” aus: Weil die Palästinenser durch Israel in diesem “Menschenrecht auf Staat” beschnitten würden, rege sich die Solidarität mit ihnen, der idealistische Standpunkt der Protestierenden, dass noch jedes Volk einen Staat verdiene und die vehemente Verletzung dieses Rechts durch Israel, die seien der Grund, warum sich gerade bei Palästina signifkant größere Menschenmassen an den Protesten beteiligen.  


Beide Erklärungen, sowohl die aus einer puren Anteilnahme an Not und Elend als auch die Erklärung vom Gegenstandpunkt, sind ungenügend.

Der Verfolgung der Rohingya durch die Militärs in Myanmar fehlt es zunächst einmal an weltpolitischer Bedeutung und das wirft ein schlechtes Licht auf die öffentliche Anteilnahme, weil damit nämlich klar ist, dass es eben nicht das durch das völkische Vorgehen Israels oder Myanmars erzeugte Elend ist, welches die Proteste inspiriert, sondern dass politische Urteile dafür sorgen, dass ein großer Teil der muslimischen und westlichen Öffentlichkeit sich vom Leid der Palästinenser ergreifen lässt. Bei den Rohingya lassen sie es eben nicht zu. Diese Feststellung ist auch keine Aufforderung, sich vor jedem toten Menschen in Bestürzung zu üben – das würde angesichts des schieren Ausmaßes des durch die Staatenwelt erzeugten Elends die Lebenszeit jedes Menschen vollständig verbrauchen und sie über das damit verbundene ständige „Schlechtgefühl“ wahrscheinlich auch noch verkürzen. Mitleiden ist also ein sich unvermittelt einstellender und daher verständlicher, aber eben nicht besonders brauchbarer Umgang mit diesem Elend.  Da empfehlen sich eher Erklärung und Kritik, die dabei helfen wenigstens eine Vorstellung davon zu entwickeln, welche Ursachen Not und Elend haben und was sich ändern müsste, damit sie mal aufhören.

Aber auch die Sorge um ein idealistisches “Menschenrecht auf Staat” kann nicht der Grund für die selektive Parteinahme sein, weil dieses, wie bereits oben erwähnt, auch bei den Rohingya verletzt ist und gleichzeitig keine öffentliche Reaktion hervorruft.

Welche politischen Urteile sind also in der westlichen und muslimisch-arabischen Öffentlichkeit unterwegs, die die anlässlich des Gaza-Kriegs festzustellende massenhafte Anteilnahme auslösen?

Unmittelbar fällt bei dem Publikum, das in irgendeiner Form auf den arabisch-muslimischen Raum bezogen ist, die Relativierung der Ambitionen der arabischen Nationen durch Israel ein. Auf der Grundlage des arabischen Nationalismus bzw. der Bezugnahme auf die muslimische Welt haben diese Staaten versucht, ihre Reichweite (wenigstens dem Anspruch nach) auszudehnen und sind durch Israel darin beschnitten worden. Das führen sie in ihrem Nationalbewusstsein als eine Ansammlung von Demütigungen mit und jedes Mal, wenn Israel gegen die Palästinenser vorgeht, mobilisiert das in den arabischen Staaten die Bevölkerung. Das Gleiche gilt für die arabisch-muslimische Diaspora.

Unmittelbar klar ist das auch bei Migranten mit palästinensischen Wurzeln. Dort ist der Mobilisierungseffekt auf ihre direkte Betroffenheit z.B. über Verwandtschaftsverhältnisse zurückzuführen.

Das westliche, nichtmuslimische Publikum erkennt zu einem gewissen Teil links wie rechts im Vorgehen Israels einen Verstoß gegen ihre Vorstellung von einer gerechten Weltordnung. Sie machen den westlichen Imperialismus maßgeblich dafür verantwortlich und sehen sich deshalb als selbstbewusste Staatsbürger in der Pflicht, sich von diesen Machenschaften ihrer  Regierungen durch Protest zu distanzieren oder gar durch Besetzungen und Blockaden deren Unterstützung für Israel Schranken zu setzen. Sie messen ihre eigenen Regierungen am Ideal einer gerechten Weltordnung und stellen zu ihrem moralischen Ungemach fest: Die Staaten, von denen sie das moralisch Gute und Gebotene erwarten, sind für diese “furchtbaren” Resultate selbst zuständig. Dabei verkennen sie, dass die Weltordnung in diesem Fall eben so geht (siehe I.VII.). Israel ist ein integraler Teil der US-Aufsicht über die Staatenwelt und das gestattet ihm seine Ausnahmestellung (die Realisierung seines völkischen Siedlungsprogrammes unter dem Schutz der Vereinigten Staaten). Anstatt zur Kenntnis zu nehmen, welche Zwecke diese Ordnung heiligt und hier und da mal braucht, protestieren diese Teile der Öffentlichkeit für ihre ideale Weltordnung.
 

Und alle zusammen fordern ein bürgerliches Leben für die Palästinenser (siehe oben) und die Rohingya haben angesichts dieser Lage eben Pech, was die Anteilnahme an ihrem Problem betrifft. Sie kommen in dieser von Gerechtigkeitsstandpunkten durchsetzten idealen Sicht auf die Welt nicht vor.

Admin991
Author: Admin991

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Älteste
Neueste Beste Bewertung
Inline Feedback
Alle Kommentare anzeigen

Kommentare suchen

0
Jetzt kommentierenx